»Wovon redest du?« Nie zuvor hatte eine der Gazala so lange mit ihr gesprochen.
»Eines Tages, in ihrer größten Not, wird deine Tochter zu mir kommen. Hierher, in den Thronsaal des Erstgeschlüpften. Dies ist eine von unendlich vielen möglichen Zukünften. Vor einer Stunde erst habe ich sie geträumt, und deshalb bin ich hierhergekommen. Es hängt von dir ab, ob deine Tochter ein Geschöpf der Dunkelheit oder eine Streiterin des Lichtes ist. Vielleicht wird sie auch im Widerstreit zwischen beidem zerrissen sein. Sie wird noch mächtiger sein als du, Nandalee. Sie wird die Geschicke Albenmarks lenken. Du aber entscheidest darüber, welchen Weg deine Tochter gehen wird. Es war eine glückliche Fügung, dass ich hierherkam, um dich zu finden, bevor deine Torheit dich auf immer verändert hätte.«
Nandalee betrachtete die Gazala. Ihren seltsamen, verdrehten Körper. Elfenähnlich und doch auch Tier.
»Lasse dich nicht durch Äußerlichkeiten täuschen! Es ist leicht zu erraten, was du denkst. Wir alle haben dich beobachtet. Wir kennen deinen widerborstigen Charakter, deine schnellen Urteile über andere. Aber wisse, es ist nicht der Körper, der zählt. Es ist die Seele, die darin lebt. Und du warst auf dem Wege, die deine für immer zu verformen. Ist dies einmal geschehen, wird deine Seele verändert in den Seelenhort eingehen. Und so wird sie auch wiedergeboren werden. Diesen Makel kann man nicht mehr tilgen.«
»Was habe ich denn getan?«, fragte sie streitlustig. Dieses sonderbare Weib glaubte doch wohl nicht, dass sie sich von finsteren Prophezeiungen über eine Tochter, die sie noch nicht einmal geboren hatte, beeindrucken lassen würde? Oder durch den Verdacht, ihre Seele könne Schaden nehmen.
»Du hast dich des Körpers eines Tieres bemächtigt, richtig?«
Nandalee schwieg trotzig.
»Ich weiß nicht, wie du es getan hast. Üblicherweise geht dies nicht ohne die Kraft der Blutmagie. Du drängst die Seele der armen Kreatur zur Seite und bemächtigst dich ihres Körpers.«
Die Elfe drehte ruckartig den Kopf, um dem Starren der blinden Augen zu entgehen. Ihr Nacken war verspannt. Es war ihr unangenehm, dass die Gazala all dies wusste. Aber sie war eine Seherin. Zu viel zu wissen war ihr Wesen.
»Wenn zwei Seelen für eine gewisse Zeit in einen Körper gesperrt werden, Nandalee, dann verschmelzen sie miteinander. Das kann unterschiedlich lange dauern. Manchmal nur eine Stunde. Ein anderes Mal vielleicht viele Tage. Ist es einmal geschehen, kann es nicht wieder rückgängig gemacht werden. Fenryl, ein Elfenfürst, der in Zukunft große Bedeutung haben wird, wird dieses Schicksal erleiden. Hüte dich vor diesem Weg, meine Freundin! Ich möchte dich nicht leiden sehen wie ihn.«
Nandalee sah die Gazala nachdenklich an. Meine Freundin … Außer Bidayn hatte sie noch nie jemand ihre Freundin genannt. Das war ein Trick! Oder sah sie etwas, das noch nicht geschehen war, und vermischte Gegenwart und Zukunft?
»Ich war im Körper eines kleinen Vogels«, gestand sie. »Ich habe ihn aufgezogen. Es gibt ein Band zwischen uns. Ich bin einfach nur diesem Band gefolgt. Blutmagie ist mir nicht vertraut.« Nandalee verwunderte der Klang ihrer eigenen Stimme. Sie hatte seit Tagen nicht gesprochen. Oder noch länger. »Wie lange ist der Dunkle schon fort?«
»Zu lange, meine Freundin. Auch wir vermissen ihn. Er gibt unseren Visionen eine Richtung und es ist gefährlich, ohne Führung durch die Abgründe der Zukunft zu schweifen. Erst verwirrt es dich nur, dann kommt der Wahnsinn. Es ist ein Fluch, zu viel zu sehen.«
»Aber kannst du dich denn nicht schützen, indem du in deinen Visionen dein eigenes Schicksal suchst? Wenn du um deine eigene Zukunft weißt, kannst du sie dann nicht verändern?«
»Unsere eigene Zukunft zu sehen ist uns verwehrt. Und ich glaube, dies ist ein Segen. Ich könnte die Zukunft meiner Schwestern sehen, doch keine von uns geriet bislang in Versuchung. Gleich unsere erste Vision stürzte den Dunklen in tiefe Zweifel. Sie war sehr stark. Wir alle hatten sie. Jedoch jede in einer eigenen Variante.«
»Und?«
Sie lächelte. »Es ist seine Zukunft. Und es nicht meine Aufgabe, dieses Wissen mit dir zu teilen, meine Freundin. Nur so viel — du hast ihn wahrhaft erschreckt, als du hier erschienen bist. Und wärest du mit einer Klinge in der Hand gekommen, wärest du jetzt tot. Im Übrigen finde ich, du solltest deine Zwergenkleider ablegen, meine Freundin. Sie verströmen einen unangenehmen Geruch.«
Der plötzliche Themenwechsel brachte sie aus der Fassung. »Ich soll nackt hier herumlaufen?«
»Das tun wir doch alle. Fühlst du dich nicht unwohl, als Einzige in Kleidern neben mir und meinen Schwestern? Vielleicht würde es dir auch helfen, zu dir selbst zurückzufinden. Man ist nackt, wenn man geboren wird … Und der Zauber, nach dem du suchst, ist kaum weniger als die Wiedergeburt der Nandalee.«
»Werde ich mich verwandeln, oder werde ich mich umbringen? «
Die Gazala lächelte. »Du wirst verändert von hier fortgehen. So viel will ich dir über deine Zukunft verraten.«
Na wunderbar, dachte Nandalee. Das kann ja alles heißen. Wenn so die Orakelsprüche der Gazala aussahen, verstand sie nicht, warum der Dunkle sie um sich versammelt hatte. Sie dachte an ihre Ankunft zurück. Als die Halle mit Seherinnen gefüllt war, die alle mit leisen, monotonen Stimmen gesungen hatten. Sie jedenfalls würde hier wahnsinnig werden, so viel war sicher. »Nackt werde ich also zu mir selbst finden, glaubst du?«
»Das Bedrückende daran, eine Seherin zu sein, meine Freundin, ist, dass wir nicht glauben, sondern wissen.«
»Du möchtest also einen nackten Zwerg sehen?« Nandalee grinste. Auf der anderen Seite … Eigentlich zeigte sie ja gar nicht sich selbst. Dies war nicht ihr Körper! Warum also nicht? Die Gazala schien zu wissen, wie ihre Zukunft aussah. Vielleicht vermochte sie ihr noch einen Hinweis darauf zu entlocken, wie sie endlich eine Rückverwandlung erreichen könnte. Also begann sie mit den klobigen Stiefeln und der groben Hose. Nandalee war froh, dass der Bart ihr den Blick auf das verstellte, was zwischen ihren Beinen baumelte. Sie streifte die Tunika ab und ein geflicktes Unterhemd.
»Ich habe noch nie einen nackten Zwergen in Fleisch und Blut vor mir gesehen«, bemerkte die Seherin. »Weißt du, warum der Dunkle eine Pyramide als seinen Rückzugsort wählte?«
»Ich weiß nicht einmal, was eine Pührahmiede ist.«
Geduldig erklärte ihr die Gazala die äußere Form des Palastes. Wirklich vorstellen konnte Nandalee sie sich aber immer noch nicht. Abgesehen von der Weißen Halle hatte sie noch keine Bauwerke aus Stein gesehen.
»Das wirklich Außergewöhnliche an einer Pyramide ist aber, dass sie die magischen Kräfte bündelt«, fuhr die Seherin fort. »Dort, wo sich der Thron des Dunklen befindet, liegt zugleich der Punkt der stärksten Fokussierung. An dieser Stelle ist es leichter, Zauber zu weben und sie entfalten zugleich eine größere Macht. Wenn du also versuchen möchtest, dich zurückzuverwandeln, solltest du es dort tun.«
Nandalee blickte zweifelnd in die blinden Augen der Gazala. Konnte sie ihr vertrauen? »Wie heißt du eigentlich?«
»Ich bin Firaz. Ich wünsche dir Erfolg, Nandalee von den Windgängern. Habe den Mut, dich selbst zu überraschen.« Mit diesen Worten zog sie sich zurück.
Verunsichert sah sie der Gazala nach. Die Aussicht, wieder allein in der weiten Halle zu sein, machte ihr zu schaffen. Voller Zweifel wandte sie sich dem Thron zu, der sich gleich einer flachen Insel aus dem überfluteten Thronsaal erhob. Würde sie dort Erlösung finden – oder den Tod?
Ein blasses Band
Gonvalon blickte auf den kleinen Vogel in seiner Hand. Was immer Piep veranlasst hatte, seinen Tanz im Schnee aufzuführen, war von ihm gewichen. Die Aura des Vogels war fast verblasst. Was auch von ihm Besitz ergriffen hatte, es hatte ihn fast getötet.