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Dem Elfen war eine ungewöhnliche Kraftlinie aufgefallen. Auf dieser Linie war die fremde Macht zurückgeflossen, die dem Vogel befohlen hatte, Buchstaben in den Schnee zu zeichnen. NAJA Die Bedeutung blieb ihm schleierhaft.

Gonvalon atmete mit einem Seufzer aus und schloss sein Verborgenes Auge. Er betrachtete den zerwühlten Schnee. Das letzte Zeichen ließ keinen Zweifel daran, dass Nandalee versucht hatte, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Es war ein stilisierter Hirsch. Das Totemtier der Windgänger, ihrer Sippe. Aber warum hatte sie nicht einfach ihren Namen geschrieben? Lag ein Bannspruch auf ihr, der das verhinderte? Und was war sie? Nur noch ein Geist?

Bislang hatte er nie geglaubt, dass es etwas wie Geister geben könnte. Die Seelen der Elfen gingen in den Seelenhort ein, bis sie aufs Neue wiedergeboren wurden. Die Seelen der anderen Albenkinder verblassten einfach. Es gab keine Geister!

Durfte er hoffen, dass Nandalee noch lebte? Die Antwort würde am Ende jenes unscheinbaren blassen Strangs liegen, auf dem die fremde Macht aus Pieps Körper geflohen war.

»Wirst du heute noch unterrichten?«

Die Stimme schreckte Gonvalon aus seinen Gedanken. Lyvianne stand vor dem Pavillon und betrachtete den zerwühlten Schnee. »War das dein Vogel?«

Gonvalon zögerte. Er wollte dem unscheinbaren magischen Band folgen, das von Piep ausging. Aber dazu musste er es verändern. Es deutlicher werden lassen. Er wusste, dass dies jenseits seiner Möglichkeiten lag. Aber wäre es klug, sich ausgerechnet Lyvianne anzuvertrauen? Sie war zweifellos eine erfahrene Zauberweberin, aber sie stand in Verbindung mit dem Verschwinden Nandalees. Immerhin war Bidayn durch sie auf das verborgene Fenster aufmerksam geworden. Und sie hatte ihrer besten Freundin Nandalee davon erzählt. Normalerweise verirrten sich keine Schüler in diesen abgelegenen Teil der Bibliothek. Steckte hinter alldem ein Plan? Oder war es doch nur ein Unfall? So viele Wochen hatte er sich den Kopf darüber zermartert und keine Antwort gefunden. Vielleicht tat er Lyvianne auch unrecht. Vielleicht war Nandalees Verschwinden doch nur ein tragischer Unfall gewesen.

»Ich komme zum Unterricht«, sagte er.

Er folgte ihr zur Übungswiese, aber an diesem Morgen war er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache. Er absolvierte pflichtbewusst seinen Schwerttanz. Doch war er verschlossen und redete kaum. Nach der Übungsstunde zog er sich in seine Kammer zurück, fütterte Piep und baute ihm aus einem Wollschal ein Nest. Der kleine Vogel war erstaunlich loyal. Dass er immer noch zu Nandalees Fenster geflogen kam … Vielleicht war auch das ein Zeichen? Er fuhr sich durch das Haar. Er musste aufhören zu grübeln und sich davon lösen, in allem Zeichen sehen zu wollen oder Hinweise auf eine Intrige. Es war ein Unfall gewesen. Sonst nichts!

Gonvalon flüchtete sich in Skizzen für eine neue Skulptur, über die er nachdachte. Er zeichnete mit Kreide auf eine Schiefertafel, doch alles, was er zustande brachte, erinnerte ihn an Nandalee. Selbst abstrakte Formen erschienen ihm plötzlich wie ihr angewinkelter Arm, die Rundung ihres Knies oder wie ihr Haar, das in goldenen Kaskaden über das Kopfkissen gefallen war, wenn sie neben ihm geschlafen hatte. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der blassen Kraftlinie zurück. Wenn er Piep mit sich nahm, könnte er der Linie bis zu Nandalee folgen. Würde er wirklich sie finden?

Es klopfte und die Tür schwang auf, ohne dass er seinen Gast hereingebeten hätte. Lyvianne stand im Eingang. Sie trug ihr schwarzes Haar offen. Das eng anliegende Kleid stand der Meisterin gut.

»Willst du reden?«

Er wusste es nicht.

Sie trat ein. Flüchtig betrachtete sie seine Zeichnungen. »Was ist in dem Pavillon geschehen? Du bist nicht mehr du selbst. Das ist nicht allein den Meistern aufgefallen.«

»Ich glaube, ich möchte die Weiße Halle für einige Wochen verlassen.«

Sie nickte. »Das haben wir uns gedacht. Wir haben über dich gesprochen. Vielleicht ist es wirklich das Beste, wenn du eine Zeit lang allein bist. Und jetzt sag mir, was der Vogel mit deinem Gemütszustand zu tun hat. Ich war mit Bidayn nach den Übungen beim Pavillon. Das sollte ein Hirsch sein, da im Schnee, nicht wahr? Sie sagt, das sei das Totemtier von Nandalees Sippe.«

»Glaubst du, dass sie noch lebt?«, platzte es aus ihm heraus.

»Nein«, entgegnete sie ruhig. »Ich wünschte es … Aber all das Blut am Fenster.«

»Du kannst es öffnen, nicht wahr? Ist sie vielleicht …«

»Warum haben wir dann nichts von ihr gehört?«, entgegnete Lyvianne ruhig. »Durch das Fenster kann man an viele Orte gelangen. Das ist Drachenmagie. Sie ist undurchsichtig und gefährlich für Elfen. Du willst doch nicht etwa …«

»Ich werde sie suchen!« Gonvalon war von seinen eigenen Worten überrascht. Er hatte sich bisher keinesfalls entschieden.

»Du bist ein Narr. Weißt du, was ich glaube? Nandalee hat durch ihre Aufsässigkeit das Missfallen der Drachen erregt. Das war kein Unfall – es war eine Hinrichtung. Du tätest gut daran, sie zu vergessen.«

Er blickte zu der schlafenden Misteldrossel. »Ich kann nicht«, sagte er leise. »Genauso wenig wie ihr Vogel.«

»Du lässt dich in deinen Entscheidungen von einem Vogel leiten? « Plötzlich lächelte Lyvianne. »Du hast mehr mit Nandalee gemeinsam, als ich erwartet hätte.«

»Er kann mich zu ihr führen.«

»Unsinn! Er wird dich in dein Verderben führen.«

»Nein!« Er entschied, sich Lyvianne anzuvertrauen. Was hatte er schon noch zu verlieren? Er erzählte ihr von den Ereignissen des Morgens und von dem blassen Band, das sich zwischen den magischen Kraftlinien verbarg. »Glaubst du, man könnte dem Band eine kräftigere Farbe geben, sodass man ihm leichter folgen kann? Oder es stärker leuchten lassen?«

Sie sah ihn eine Weile schweigend an. »Bist du dir im Klaren, worum du mich bittest? Ich glaube nicht. Um einen solchen Zauber zu weben, müsste ich Blutmagie wirken.«

Es war, wie er vermutet hatte. Sie war viel tiefer in die Geheimnisse der Zauberei eingeweiht als andere Elfen. Aber sie konnte helfen. »Was benötigst du?«

»Einen Platz, an dem wir beide allein sind. Ein junges Reh. Und auch einige Tropfen von deinem Blut. Glaube nicht, dass du nur zusehen wirst. Wenn du anwesend bist, wird der Zauber auch dich verändern. Ist sie das wert? Du weißt doch nicht einmal, was du am Ende dieses Bandes finden wirst.«

»Ich muss diesen Fluch brechen!« Er sagte es mehr zu sich selbst als zu Lyvianne. »Ich muss wissen, was aus ihr geworden ist.« Er blickte auf und sah in die kalten Augen der Meisterin. »Ich würde jeden Weg gehen, um Nandalee zu finden.«

»Aber sie ist nicht mehr hier!«

Gonvalon ließ sich nicht beirren. »Wenn ich bis zum Ende der blassen Linie gegangen bin, werde ich wissen, was mit ihr geschehen ist! Wirst du mir helfen?«

Sie sah ihn lange aufmerksam an, dann nickte sie. »In vier Tagen stehen die Sterne günstig. Wir treffen uns draußen im Wald. Dort, wo du deine heimlichen Stelldicheins mit ihr hattest. Bring den Vogel mit und ein junges Reh.«

Das Opfer

Es war zu kalt für den Herbst. Der erste Schnee war wieder geschmolzen, aber eine nasse, alles durchdringende Kälte nistete im Gehölz. Der Ziegenbock, den Gonvalon an einem Strick hinter sich herzog, meckerte verdrießlich. Er hatte das Tier einigen Kobolden abgekauft. Ein Reh zu fangen war ihm einfach nicht gelungen. Nandalee hätte ihren Spaß gehabt, wenn sie gesehen hätte, wie ungeschickt er sich angestellt hatte. Er war kein Jäger! Jedenfalls nicht für diese Sorte Wild.

Hoffentlich würde Lyvianne den Bock akzeptieren. Er war kleiner als ein Reh, aber etwas anderes hatte er nicht auftreiben können.

Piep gab einen kläglichen Laut von sich. Er hatte der Misteldrossel einen kleinen Käfig aus Weidenästen geflochten, den er nun an seinem Gürtel trug. Der Vogel hasste es, eingesperrt zu sein. Bis sie den Wald erreicht hatten, hatte er streitlustig gezwitschert und gegen den Käfig aufbegehrt, als könne er mit seinen zarten Flügeln das Weidengeflecht sprengen. Doch nun war auch er still geworden. Er spürte es, genau wie der Bock. Etwas Fremdes war in diesem Wald. Und der Wald selbst schien ängstlich zu lauern. Kein Lüftchen regte sich. Kein Laut war zu hören.