Gonvalon konnte kaum drei Schritt weit sehen. Doch den Weg zu dem geheimen Zufluchtsort, an dem Nandalee ihm ihre Liebe geschenkt hatte, würde er auch mit verbundenen Augen finden. Nebel stieg aus dem Boden, als sei es der Atem von etwas, das sich unter den Schichten aus totem Laub verborgen hielt. Mit klammen Fingern griff er hinauf bis zu Gonvalons Hüften. Obwohl sich kein Wind regte, wogte der Nebel zwischen den Bäumen. Es war eine behäbige Bewegung. Gelassen, doch unübersehbar.
Der Ziegenbock drängte sich an Gonvalons Beine, als gäbe ihm die Berührung Trost und Sicherheit.
Gonvalons Gedanken weilten bei Nandalee. Ihr Gesicht begann in seiner Erinnerung zu verblassen. So sehr er sich auch bemühte, es zu halten. Machte er sich etwas vor, wenn er dem magischen Band folgte, das von dem Vogel ausging?
»Dieser Bock ist alles?«
Lyviannes Stimme schreckte Gonvalon aus seinen Gedanken. Er hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Warum lauerte Lyvianne ihm hier auf? Und wo war sie? Verwundert sah er sich um. Der Bock meckerte leise und versuchte ängstlich, sich zwischen seine Beine zu zwängen.
Ein Schatten löste sich von einem Holunderdickicht. Lyvianne. Hatte sie einen Zauber gewoben, der geholfen hatte, sie zu verbergen? Ihr Gesicht und ihre Hände waren mit Ruß geschwärzt. Sie trug ein dunkelgraues Kleid aus zerknittertem Stoff. Es war, als sei sie eins mit dem Holunder gewesen.
Ein kalter Lufthauch streifte Gonvalon. Der Nebel floh vor Lyvianne. »Dies ist kein guter Ort«, sagte sie entschieden.
»Es ist noch ein Stück, bis wir …«
Sie hob ihre rußgeschwärzten Hände. »Das ist ein noch schlechterer Ort!«
»Du hast ihn bestimmt!«, entgegnete er ärgerlich. Sie hatte einen Zauber gewoben. Er konnte ihn spüren. Es war eine Art Magie, die ihm unvertraut war. Zehrend und dunkel.
»Ich habe mich geirrt.« Ihre Zähne blitzten durch ein Lächeln. »Dieser Ort ist von einem Zauber durchdrungen, der uns nicht nützlich sein wird. Man kann eure Liebe spüren – immer noch. Was du aber wünschst, ist dunkel, Gonvalon. Bist du dir deines Wunsches wirklich sicher?« Die hellbraunen Sprenkel in ihren Augen begannen zu leuchten. Ihr Blick schlug ihn in seinen Bann. Diese Augen … Sie waren vertraut aus einer Zeit, die in Dunkelheit verschwunden war. Sie ist die Dunkelheit, dachte er.
Ärgerlich schüttelte er den Kopf! Was für ein Unsinn! Sie wollte das erreichen. Ihn zweifeln lassen. »Ich bin mir sicher. Ich würde jeden Weg gehen, um zu Nandalee zu gelangen.«
Sie neigte den Kopf zur Seite und sah ihn lange an. Schließlich streckte sie ihm wortlos die Hand entgegen. Ihre Berührung ließ ihn erschauern. Wieder hatte er das Gefühl, in die Dunkelheit jenseits der Nacht gezogen zu werden, der er seinen Namen verdankte. Gonvalon. Winterkind.
Der Nebel floh in Spiralen vor Lyviannes Schritten. Wieder überlief Gonvalon ein Schaudern, doch diesmal entsprang es der Macht des Zaubers, den er spürte. Der Nebel formte einen Tunnel um sie herum. Er hatte das Gefühl, der Wirklichkeit entrückt zu sein. Wie in einem Traum, in dem man mit einem Schritt etliche Meilen überwand.
Der Ziegenbock sperrte sich. Er stemmte die Hufe in den dunklen Waldboden. Gonvalon packte ihn und klemmte ihn unter den Arm. Das Tier keilte aus. Verzweifelt kämpfte es um seine Freiheit.
Endlich hielt Lyvianne inne. Der Nebel wich weiter von ihnen zurück. Sie befanden sich jetzt auf einem niedrigen Hügel. Eine Gruppe toter, von Efeu erstickter Bäume umgab sie. Knochenbleich strahlte das Holz im Mondlicht, wo sich die Rinde abgeschält hatte. Es roch nach Moder und Tod.
Gonvalon spähte zwischen den Bäumen hindurch. Nebel lag wie ein Leichentuch über dem Land. Es gab keinen zweiten Hügel, soweit sein Blick in der Dunkelheit reichte. Keinen Wald. Nichts. Nur den Nebel, der die ganze Welt verschlungen zu haben schien.
»Wo sind wir hier?«
»Wir sind einen weiten Weg gegangen. Und wir sind hier nicht allein.«
Gonvalon sah sich beklommen um. Er ging in sich und öffnete sein Verborgenes Auge. Das Netz der Kraftlinien war verzerrt. Viele strebten auf einen der Bäume zu, andere schienen ihm auszuweichen. Nie zuvor hatte er ein solches Muster gesehen. Der Baum war von einer machtvollen weiten Aura umgeben. Ein strahlendes hellblaues Licht, durch das sich purpurne Adern zogen. Lyvianne trat an den Baum heran. Ihre Auren überschnitten sich. Die purpurnen Adern durchdrangen das Leuchten, das Lyvianne umgab. Einer der Lichtarme streckte sich Gonvalon entgegen.
Etwas versuchte in seinen Geist vorzudringen. Ein beseelter Baum, dachte der Elf. Bisher kannte er nur Geschichten über diese seltsamen Bäume, deren Wurzelwerk angeblich bis Nangog und Daia reichte.
»Dies ist Matha Naht, die mich vieles gelehrt hat.«
Gonvalon schloss sein Verborgenes Auge. Er spürte, wie ihn die sich ausweitende Aura des Baums umfing. Holunder. Der Busch war zur Größe eines kleinen Baumes angewachsen. Wie die anderen Bäume hier oben wirkte er tot. Auf den ersten Blick.
Der Ziegenbock auf Gonvalons Arm hatte es aufgegeben zu kämpfen. Vor Schrecken starr blickte er zu Matha Naht. Was er wohl sah? Auch Piep fürchtete sich. Er zwitscherte ängstlich und schlug so wild mit den Flügeln, dass Gonvalon Angst bekam, er könne sich verletzen. Die Tiere waren klüger als er. Er sollte sich nicht mit dieser Kreatur einlassen. Und doch war dies der einzige Weg, um zu Nandalee zu gelangen. Er hatte keine Wahl.
»Wir müssen das Blut der Ziege über den Wurzeln nahe dem Stamm vergießen. Matha Naht wird es trinken, und wenn sie an Kraft gewinnt, wird sie den Zauber für dich weben.«
»Und was tust du?«
»Ich sehe zu und lerne. Die Blutmagie ist mir kaum vertraut. Sie ist sehr machtvoll. Wir sind Zauberweber. Wir nutzen die Kraftlinien und lassen ein neues Gespinst erstehen, wenn wir die Wirklichkeit verändern. Blutmagie aber löscht Linien aus. Die Kraft, die dabei freigesetzt wird, ist ungleich größer.«
Gonvalon betrachtete die abgestorbenen Bäume auf der Hügelkuppe. Waren sie Opfer Matha Nahts? Oder war jemand hierhergekommen, um den beseelten Holunder zu bekämpfen?
»Deine Gedanken verärgern sie, Gonvalon. Du solltest jetzt den Ziegenbock näher zum Stamm bringen und ihm die Kehle durchschneiden. «
Es widerstrebte ihm zutiefst, von einem Baum Befehle anzunehmen. Wie hatte er so tief sinken können?
»Du kannst gehen«, sagte Lyvianne. »Aber das Opfertier bleibt hier.«
»Ich werde nicht fortlaufen«, entgegnete er matt. »Ich weiß, was ich will, und bin bereit, die nötigen Opfer zu bringen.«
Lyvianne deutete auf eine schlammige Stelle nahe des Stammes. Knorrige Wurzeln bedeckten den Boden. Der Bock gab einen kläglichen Laut von sich, als Gonvalon ihn absetzte. Wieder drängte er sich eng an die Beine des Elfen.
Lyvianne reichte ihm einen Dolch. Eine merkwürdige Waffe, deren Griff aus einem mit Lederriemen umwickelten Krummhorn gefertigt war. Das Stichblatt bestand aus schwarz schimmerndem Obsidian. Der Dolch kam ihm ungewöhnlich schwer vor. Und unnatürlich kühl. Gonvalon packte die Hörner des Bocks und bog dessen Kopf nach hinten. Der Dolch drang tief in die Kehle des Tiers. Pulsierend spritzte das Blut hervor, und die Hufe zerwühlten im Todeskampf den Schlamm. Eines der Augen starrte Gonvalon unverwandt an, bis das Leben gänzlich aus dem Bock wich.
Lyvianne nahm ihm den Dolch aus der Hand. Die Elfe beugte sich über den Kadaver. Mit geübten Schnitten öffnete sie die Bauchhöhle. Ihre Hand glitt in die klaffende Wunde und sie zerrte die Leber hervor. Prüfend betrachtete sie das blutige Organ von allen Seiten und schüttelte schließlich den Kopf. »Es war nicht genug.«
»Was soll das heißen?«
»Dass du ein junges Reh hättest bringen sollen, wie ich es dir aufgetragen hatte. Ein Ziegenbock ist kein Ersatz dafür. Er ist kleiner und ihm fehlt die wilde Kraft eines Geschöpfes, das in Freiheit aufgewachsen ist.«