Gonvalon war davon überzeugt, dass dieser verfluchte Baum das Blut für seine eigenen Zwecke genutzt hatte. Die Wurzeln zu seinen Füßen schienen sich um ein Weniges verschoben zu haben. Und von dem Baum ging eine widerwärtige Kälte aus. »Was will der Holunder?«
»Matha Naht, Gonvalon. Nenn sie bei ihrem Namen. Sie ist nicht einfach nur ein Baum! Matha Naht will ein wenig von deiner Kraft nutzen. Damit könnte der Zauber vollendet werden. Das ist doch immer noch dein Wunsch, nicht wahr?« Kaum merklich schüttelte sie den Kopf, aber er ignorierte es. »Was muss ich tun?«
Lyviannes Augen weiteten sich. »Du musst dich ihr ganz überlassen. Sie will mit dir allein sein. Sie wird von deinem Blut trinken.«
»Gibt es keinen anderen Weg?«
»Sie behauptet zu wissen, wie sie den Zauber vollenden kann.«
Gonvalon blickte zu dem dichten Holunder. Einige Äste reckten sich in seine Richtung. Ein unheimliches Knarren begleitete die Bewegung.
»Tu es nicht!«, zischte Lyvianne.
»Du hast mich doch hierhergebracht.«
»Ich hatte nicht erwartet, dass sie dich für sich allein haben will. Du kannst ihr nicht vertrauen. Sie ist hinterhältig. Ihr Wort zählt nichts!«
»Und all das sagst du mir in ihrer Gegenwart? Du, die du mich hierhergebracht hast? Wie sollte ich deinem Wort trauen?«
»Sie hört schlecht«, flüsterte Lyvianne. »Sprich leiser. Und denk an etwas anderes. Unsere Gedanken und Gefühle bleiben ihr nicht verborgen. Doch dem gesprochenen Wort vermag sie kaum zu folgen. Liefere dich ihr nicht aus. Sie wird dich quälen. Viel mehr als von Blut vermag sie sich von Angst zu nähren. Bleib nicht allein bei ihr!«
»Ich fürchte mich nicht vor einem Baum.«
»Das wirst du, das verspreche ich dir. Das wirst du!«
Ihre Sorge schien aufrichtig. Zweifelnd blickte er zum Holunderbaum.
»Denk an etwas anderes«, flüsterte sie.
Gonvalon glaubte nicht, dass dem Holunder irgendetwas entging, was auf dieser Insel inmitten des Nebelmeers geschah. Vielleicht waren Lyviannes Warnungen ein Teil des Spiels, das die beiden mit ihm trieben. Er wandte sich ab und blickte auf den wogenden Nebel. Kälte kroch ihm in die Glieder. In der Ferne heulte ein Wolf. Drei Herzschläge später erhielt der einsame Rufer eine Antwort. Der zweite Wolf war näher.
Der Elf atmete aus, ließ alle Gedanken fahren und öffnete sein Verborgenes Auge. Das Band, das von Piep ausging, hatte seine Farbe verändert. Es war nun von einem blassen Rot. Fast nur rosa. Es wurde schwächer. Die Verbindung zu Nandalee starb ab. Er würde sie endgültig verlieren! Es hatte am Morgen begonnen. Vielleicht war sie … Er verbannte diesen Gedanken. Er musste das Band wieder kräftigen. Und wenn er dazu ein wenig von seinem Blut geben müsste, würde ihn das nicht schrecken. Er wollte sie zurück! Um jeden Preis.
Entschlossen trat Gonvalon vor den Holunder. »Ich bin bereit! Nimm von mir, was immer du brauchst, um den Zauber zu vollenden. «
Die dürren Äste raschelten, obwohl es völlig windstill war.
»Sie will, dass du deine Kleider ablegst«, sagte Lyvianne mit tonloser Stimme.
Gonvalon gehorchte. Er dachte an Nandalee. Ganz gleich, was der bösartige Holunder ihm antun würde, er würde im Geiste nicht hier sein. Er würde sich völlig verschließen. Sich an das verblassende Bild seiner Geliebten klammern. Ihm blieb keine Zeit, nach einem anderen Weg zu ihr zu suchen. Dass das dünne Band zwischen der Misteldrossel und Nandalee verblasste, konnte nichts Gutes bedeuten. Er musste sich beeilen, oder er würde sie ein zweites Mal verlieren. Und diesmal wäre es für immer, da war er sich ganz sicher.
Als er sich hinsetzte, um seine Stiefel auszuziehen, beugte sich Lyvianne über ihn. »Bleib nicht! Sie hat die Macht, deine Seele zu zerstören. Selbst wenn du zu Nandalee zurückfinden würdest, wärst du nicht mehr der Mann, den sie geliebt hat. Der wirst du nie mehr sein.«
»Der werde ich auch nicht sein, wenn ich nicht versuche, sie zu finden. Auch wenn die Hoffnung auf Erfolg noch so klein ist.«
»Du bist ein Narr«, sagte sie freundlich. »Und ich bin stolz … dich zu kennen.« Sie küsste ihn auf die Stirn. Einen Moment lang sah es aus, als wolle sie noch etwas sagen, dann wandte sie sich abrupt um.
Gonvalon legte seine Kleider ab, faltete sie sorgfältig und schichtete sie übereinander. Dann trat er an den verwachsenen Stamm des Holunders.
»Sie will, dass du dich setzt, mit dem Rücken zum Stamm hin.«
Der Elf gehorchte. Es war unangenehm kühl. Er war angespannt. Etwas lag in der Luft … Er wusste, das Lyvianne recht hatte. Sich auszuliefern war dumm. Er konnte die Boshaftigkeit Matha Nahts spüren. Ihr Verlangen danach, ihn zu quälen.
Erneut heulte ein Wolf im weiten Nebelmeer.
»Lebe wohl.« Lyvianne murmelte etwas, das er nicht verstand. Dann verschwand sie in der Dunkelheit.
Wurzeln legten sich um seine Oberschenkel. Wie dunkle Schlangen wanden sie sich. Nur sehr langsam. Sie waren kalt wie Eis. Etwas berührte ihn an der Schulter. Ein dicker Spross schob sich knirschend aus der Rinde und legte sich um seinen Hals. Er zog sich enger, bis seine Kehle so sehr zugedrückt wurde, dass er keuchend um jeden Atemzug ringen musste.
Ein abgebrochener Ast bohrte sich in seinen Arm und Blut perlte über seine blasse Haut.
Das Wolfsgeheul klang nun sehr nah. Sie mussten am Fuß des Hügels sein.
Gonvalons Herz schlug schneller. Die Schreckensbilder jener Nacht, die ihm den Namen Winterkind gebracht hatte, drängten sich wieder auf. Die toten Wölfe im Schnee. Die Angst und die Kälte.
Es begann zu schneien! Der Elf fluchte stumm. Konnte Matha Naht in seinen Gedanken lesen? Was war sie? Die Schneeflocken funkelten im Sternenlicht. Die Kälte war betäubend. Selbst ohne die Fesseln aus Ästen und Wurzelwerk hätte er sich kaum noch bewegen können.
Er dachte an die erste Begegnung mit Nandalee. Die Winternacht, in der sie sich in einem eisigen Bach vor den Trollen versteckt hatte. Sie war hart. Härter, als er es war. Nackt war sie durch den Schnee geflohen. Sie hatte nie aufgegeben! Sie, die beste Schülerin, die er je unterrichtet hatte. Er musste kämpfen! Er wollte sie zurück.
Die Fessel um seinen Hals zog sich noch ein wenig enger. Würgend rang er um Atem. Entsetzt sah er an sich herab. Noch weitere Äste hatten ihn umschlungen. Aus einem Dutzend kleiner Wunden perlte Blut. Dieser verfluchte Baum!
Der Schnee blieb liegen. Gonvalon hörte ein leises Rascheln. Schatten huschten zwischen den abgestorbenen Bäumen. Er vermochte keinen klaren Blick auf sie zu erhaschen, aber das war auch nicht nötig. Er wusste, wer da gekommen war. Angelockt vom Geruch des Blutes.
Das war nur ein Trug. Matha Naht wollte ihm Angst machen. Sie wusste um seine Schwächen. Gonvalon versuchte sich das Bild Nandalees ins Gedächtnis zu rufen. Stattdessen sah er nur den verblassenden Faden, der sie mit Piep verband. Sie lag im Sterben, eine andere Erklärung konnte es nicht geben! Ihre Lebenskraft verging. Nichts hielt sie mehr in Albenmark. Er musste sie schnell finden.
Ein Wolf trat aus den Schatten der toten Bäume. Ein hageres Tier. Die Rippen stachen durch sein Fell. Die schmale Schnauze war halb kahl. Das Rudel schickte seinen Ältesten. Den, der den geringsten Verlust bedeuten würde.
Der alte Räuber war vorsichtig. Leicht geduckt, den Schwanz eingeklemmt, näherte er sich.
Gonvalon bäumte sich gegen seine Fesseln auf. Er wollte ein weniger höher rutschen, doch vermochte er sich kaum einen Zoll zu bewegen.
Der Wolf musterte ihn eindringlich, den Kopf leicht schief gelegt. In seinen kalten blauen Augen lag Verstand. Er wagte sich näher. Er hatte begriffen, dass Gonvalon nicht fliehen konnte. Er schnupperte. Lyviannes Witterung musste noch deutlich wahrnehmbar sein.
Der Wolf war jetzt keinen halben Schritt weit mehr von seinen Füßen entfernt. Wieder bestürmten Gonvalon die Ängste jener längst vergangenen Winternacht. Es waren keine klaren Erinnerungen. Nur die Ängste waren geblieben. Schnappende Kiefer. Die eisige Kälte. All dies hier konnte nur ein Trugbild sein, das Matha Naht heraufbeschworen hatte. Sie wollte die schlummernden Ängste in ihm wieder wecken.