Artax blinzelte. Seine Augen brannten. Das war nicht Nebel, sondern Rauch. Von draußen hörte er gedämpfte Stimmen. Die dicken Schilfwände verschluckten die Geräusche.
»Feuer?« Er war noch immer nicht ganz wach. Nach dem Zweikampf zwischen Datames und Kurunta hatte er sich betrunken. Das war nicht klug gewesen und seiner Position nicht angemessen … Und er hatte es trotzdem getan. Er war mit so vielen Hoffnungen hierhergekommen. Er hatte tatsächlich geglaubt, man könne den Krieg noch abwenden.
»Erhabener!«, drängte der schielende Diener erneut. »Bitte …« Er verfiel in bellendes Husten. »… schnell, Erhabener! Ihr seid in Gefahr.«
Artax blickte geistesabwesend auf die wirbelnden Rauchschleier. Trotz des vielen Rauchs schien es hier kein Feuer zu geben. Der Hofwesir Muwattas hatte ihm eine ganze Halle für sich allein überlassen. Das Protokoll erlaubte niemandem, außer seinen Haremsdamen, sich in Blickweite des Unsterblichen zu befinden, wenn er zu Bett ging. Artax hatte auch die anderen Schilfbündelhallen gesehen. Dort war ein Gitterwerk aus Stangen unter der gewölbten Decke eingezogen. Schilfmatten, Stoffbahnen und im Harem sogar prächtige Teppiche hingen von den Stangen herab und verwandelten die Hallen in kleine Labyrinthe aus ineinander verschachtelten Kammern und schmalen Gängen.
»Erhabener!«
Artax brummte und stemmte sich hoch. Seine Gedanken flossen träge. Er hatte Kopfschmerzen und der schielende Diener war ihm lästig!
Kaum dass er sich aufsetzte, wurde es Artax schwindelig. Ein dumpfer Schmerz nistete hinter seiner Stirn. Einen Augenblick lang fürchtete er, er müsse sich erbrechen. Er hatte das Gefühl, nicht allein betrunken zu sein, sondern auch noch einen schlimmen Schnupfen zu haben. Die Sorte Schnupfen, bei der sich Kopf und Hals mit grünem Eiter füllten.
Er stützte sich auf den Diener, der selbst kaum geradeaus gehen konnte. Schwankend gelangten sie zum Ausgang der Schilfbündelhalle und zogen den schweren Vorhang zur Seite.
Der Lärm war nun nicht mehr gedämpft. Überall gellten Schreie. Todessschreie! Befehle, die Ordnung in das Durcheinander bringen sollten. Voller Verzweiflung gerufene Namen.
Halb vom Rauch erstickte Flammen erhellten die Nacht. Die Abstände zwischen den Schilfbündelhallen waren zu eng. Überall drängten sich Menschen, die sich in Sicherheit bringen wollten. Helfer mit Ledereimern voller Wasser wurden niedergetrampelt.
Husten schüttelte Artax. Wie dichter Nebel hing der Rauch über dem Hof und wollte nicht abziehen. Die Schilfbündel mussten in ihrem Inneren noch feucht sein. Sie schwelten lange, bevor Flammen aus ihnen schlugen.
Der Diener, der ihn geweckt hatte, stürzte zu Boden. Artax packte ihn, wollte ihn hochheben, als ein Pferd aus dem Rauch brach. Die Mähne des Tiers stand in hellen Flammen. Wahn glänzte in seinen Augen. Artax warf sich zur Seite, da preschte der Hengst schon an ihm vorüber. Den Diener in den Armen, lehnte er gegen die Wand einer Schilfbündelhalle. Zischender Schaum drang zwischen den Schilfrohren hervor. Er drang in seine Kleider, verbrühte ihm den Rücken.
Artax schrie vor Schmerz laut auf. Mit Tränen in den Augen folgte er dem Pferd in den wogenden Rauch, hoffte, einen Weg aus dem Inferno zu finden. Bald sah er Schatten neben sich, ohne Gesichter erkennen zu können. Pferde wieherten. Das Feuer musste auf die Ställe übergegriffen haben.
Der Unsterbliche erreichte eine Hauswand und folgte ihr. Ein Tor! Eine Gruppe Krieger drängte sich dort und starrte auf den Hof. Ihre Untätigkeit erfüllte Artax mit brennender Wut. »Los, helft! Wickelt euch nasse Tücher um den Kopf und helft, verflucht noch mal!«, fuhr er den Ältesten von ihnen an, einen stoppelbärtigen Kerl, dessen Oberlippe zu einem wulstigen Narbenwulst deformiert war. »Wie heißt du?«
»Urija«, entgegnete der Krieger ängstlich.
Artax packte einen zweiten der Männer beim Ärmel. »Und du? Wie heißt du?«
»Mursil.«
»Was steht ihr hier einfach nur herum, Urija und Mursil?«
Sie starrten ihn an. Wie betäubt. Erkannten sie ihn nicht? Hatten sie Angst vor ihm? »Los, raus auf den Hof mit euch!« Er stieß den Narbigen von sich. »Geht und helft! Tut etwas, bei den Göttern! «
Die Wachen wichen vor ihm zurück und bald waren sie im dichten Rauch verschwunden. Artax sah sich nach dem Diener um, der ihn gerettet hatte. Er kauerte an der Innenwand des Tores. Völlig in sich zusammengesunken. Behutsam packte der Unsterbliche seinen Retter unter den Armen und brachte ihn auf den angrenzenden Hof. Einige Dutzend Männer und Frauen aus seinem Gefolge hatten sich bislang hierher gerettet. Nur wenig Rauch drang durch das Tor. Hier waren sie in Sicherheit.
Artax legte seinen Diener neben einer Pferdetränke zu Boden und benetzte dessen Gesicht mit Wasser. Er lag weiterhin still. Verzweifelt sah Artax sich um. Wo waren die Männer Muwattas? Warum war niemand hier, um ihnen zu helfen?
In seinem Herzen wusste er die Antwort.
Artax riss sich das dünne Hemd, das er trug, vom Leib, tränkte es mit Wasser und wickelte es sich um das Gesicht, sodass nur ein schmaler Spalt für seine Augen blieb. Dann kehrte er durch das Tor zurück. Die Männer, die eben noch dort gestanden hatten, waren verschwunden. Vermutlich geflohen.
Der Unsterbliche stürmte in den dichten Rauch. Er suchte nach Überlebenden, zerrte sie zum Tor und wies ihnen den Weg. Er fand Datames, der einen kleinen Trupp Dienerinnen führte. Sein Hofmeister war rußverschmiert, sein Haar versengt. die Augen rot gerändert vom Rauch. »Der Harem …« Datames hustete. »Sie sind alle … tot. Erstickt. Alle! Sie sehen aus, als würden sie schlafen. Sie …«
»Komm hier heraus!« Er packte Datames und schob ihn zum Tor. Endlich kamen ihnen Höflinge Muwattas zu Hilfe. Diener und auch einige Wachen. Viel zu spät, dachte er bitter. Ganz, wie Muwatta es gewollt hatte. Der Herrscher hatte etwas unternehmen müssen, sonst würde das Feuer am Ende noch eine Gefahr für seinen Palast.
Die Hilfe war gut organisiert. Bald waren die brennenden Stallungen gelöscht. Gegen das Feuer in den Schilfbündelhallen gingen die Helfer nicht vor. Dieser Kampf war aussichtslos. Wo das Schilf einmal Feuer gefangen hatte, war die verzehrende Wut der Flammen nicht mehr zu bändigen.
Bald brachen die brennenden Hallen in sich zusammen und Ströme von Funken stoben über die Mauern des Palastes dem Sternenhimmel entgegen. Für sich genommen ein schönes Bild.
Artax kauerte auf einer Treppe. Sein Rücken schmerzte, wo der siedende Schaum ihn verbrüht hatte. Er konnte nicht fassen, dass Muwatta das getan hatte! War das die Rache für Kurunta? Oder war es von Anfang an geplant gewesen?
Der Unsterbliche blickte zum Himmel hinauf. Im Osten zeigte sich ein erster Streifen silberblauen Lichts. Über der Stadt hingen dunkle Regenwolken wie ein himmlisches Leichentuch. Man hatte angefangen, die Toten zu bergen. Sie wurden, in Tücher gerollt, entlang einer Mauer aufgereiht, hinter der sich wohl das Backhaus des Palastes verbarg. Der Duft frisch gebackener Fladenbrote überlagerte den Geruch von schwelendem Schilfrohr.
Artax beobachtete, wie die Morgendämmerung ihre Schwingen über den Horizont streckte. Der Anblick tröstete seine verwundete Seele und ließ ihn zugleich an den Göttern zweifeln. Die Welt könnte ein vollkommener Ort sein! Warum duldeten die Devanthar einen Mann wie Muwatta als Unsterblichen? Welchen Nutzen brachte er ihnen? Und warum hatte der Löwenhäuptige all das nicht verhindert?
Weil du dich von ihm losgesagt hast, du Narr. Was erwartest du? Du willst neue Wege beschreiten, du willst das Reich verändern, das er in Jahrhunderten geformt hat. Stürzen, was er mit uns aufbaute. Was wunderst du dich da, dass du deine Kämpfe alleine austragen musst? Du solltest dich mit dem Löwenhäuptigen aussöhnen und auf seinen Rat hören. Und auch auf das, was wir dir sagen. Wir verkörpern Jahrhunderte der Erfahrung und du trittst unser Wissen mit Füßen. Haben wir dir nicht davon abgeraten, hierherzukommen? Nun höre auf uns! Mach deinen Frieden mit dem Löwenhäuptigen und dann vergelte Muwatta Gleiches mit Gleichem. Schick ihm Meuchler! Lass Kurunta die Kehle durchschneiden. Schick seinen Haremsdamen Seidenschals, die Pockenkranke in der Stunde ihres Todes in Händen gehalten haben, auf dass selbst jene, die ihr Leben behalten, für immer ihre Schönheit verloren haben werden. Höre auf uns! Nur Rache tilgt den Schmerz, den du jetzt fühlst.