Artax schloss die Augen und floh dem Grauen. Nie zuvor war er so sehr versucht gewesen, dem Rat Aarons zu folgen. Doch der Quälgeist hatte immer nur sein Verderben im Sinn. Er durfte ihm nicht trauen – besonders dann nicht, wenn es süß und verlockend war, seinem Rat zu folgen. Rache macht blind, hatte seine Mutter ihm immer gesagt, wenn er verprügelt nach Hause gekommen war und darüber nachgesonnen hatte, wie er es den Siegern von heute an einem anderen Tag heimzahlen würde. Seine Mutter war eine einfache Frau gewesen, die nicht lesen konnte und die sich in ihrem ganzen Leben nie weiter als fünf Meilen von ihrem Dorf entfernt hatte. Aber Wahrheit brauchte keine Gelehrsamkeit und keine großen Worte. Er durfte sich nicht von blindem Hass übermannen lassen. Er würde Muwatta bekämpfen! Mit aller Entschlossenheit, aber ohne Hass.
Was du tust, ist verbohrt und dumm! Sieh dich um. Sieh dir die Toten an. Und dann jene, die leben. Jeder von ihnen weiß, dass die Toten hier liegen, weil du weichherzig bist. Weil du nicht verstanden hast, wie Unsterbliche miteinander umgehen. Muwatta kann man keinen Vorwurf machen. Er hatte eigentlich keine andere Wahl. Insbesondere nicht, nachdem Kurunta gedemütigt wurde. Aber du hattest die Wahl! Niemand hätte von dir erwartet, hierherzukommen. Mit Muwatta kann man nicht reden. Geh hin und sieh dir die Toten an! Merke dir jedes einzelne Gesicht, denn ihr Blut klebt genauso an deinen Händen, wie an denen von Muwattas Brandstiftern.
Artax erhob sich. Stumm zählte er die in Tücher eingeschlagenen Toten. Fünfunddreißig! Dann entdeckte er eine zweite Reihe. Ein zierlicher Fuß in einem roten Pantoffel, der unter einem Tuch hervorlugte, verriet ihm, wer dort lag. Selbst im Tode noch von allen anderen getrennt. Seine Haremsdamen. Alle siebzehn, die Datames ausgewählt hatte. Artax ballte die Fäuste in hilfloser Wut. Sie waren nur schmückendes Beiwerk auf dieser Reise gewesen. Es stand ihm nicht an, ohne Begleitung aus seinem Harem an den Hof eines anderen Unsterblichen zu kommen. Er wusste nicht einmal, wen Datames ausgewählt hatte.
Steif und mit schmerzendem Rücken erhob er sich und ging zu ihnen hinüber. Er kniete neben jeder von ihnen nieder, schlug die Tücher zurück und küsste sie zum Abschied auf die Stirn. Manche Gesichter waren vom Feuer so sehr entstellt, dass er nicht mehr zu erraten vermochte, wen er küsste. Andere sahen aus, als seien sie gar nicht in die lange Dunkelheit gereist, sondern würden nur schlummern und von seinem Kuss wieder erwachen. Die letzte in der Reihe war Schaptu. Er erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung im Fliegenden Palast, als sie ihn gemeinsam mit Aya und Mara empfangen hatte. Ihr rotes Haar war fast vollständig verschwunden. Doch ihr Gesicht war nicht entstellt. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, sodass er ihre makellos weißen Zähne sehen konnte. Zärtlich küsste er sie auf die Stirn und deckte sie behutsam zu wie ein schlafendes Kind.
Als Artax sich erhob, wurde er sich bewusst, dass jeder auf dem Hof ihn ansah. Er war einmal mehr aus der Rolle des Unsterblichen geraten! Und er bereute es nicht. Sollte der Löwenhäuptige ihn nur bestrafen! Er war nun einmal nicht der kaltherzige Adelige, der Aaron gewesen war. Und er würde sich auch nicht dazu machen lassen.
Langsam ging er zur gegenüberliegenden Seite des Hofes, wo die anderen Toten aufgebahrt lagen. Die Diener und Soldaten, Pferdeknechte, Mundschenke und Näherinnen. All jene, die namenlos blieben und doch das Reich auf ihren Schultern trugen. Wie die Haremsdamen küsste er jeden, der dort lag, auf die Stirn. Auch jener Diener, der ihn geweckt hatte, lag nun in der Reihe der Toten. Äußerlich ganz unverletzt … Ihn zu sehen versetzte Artax einen Stich. Der Mann war gestorben, weil er ihn, Artax, den vermeintlich Unsterblichen, aus der Schilfbündelhalle gerettet hatte. Er hätte einfach davonlaufen können.
»Bitte, Erhabener. Ihr seht durstig aus.« Eine junge Dienerin war vor ihn getreten. Tief vorgebeugt, die Arme erhoben, bot sie ihm einen schlichten Tonbecher mit Wasser.
Dankbar nahm er ihn an und trank. Seine Kehle war wie ausgedörrt.
»Erhabener …« Die Dienerin blickte scheu zu ihm auf und Tränen standen ihr in den Augen. »Dort liegt meine kleine Schwester …« Ihre Stimme brach. »Ich … Ich war es, die sie zum Dienst im Palast überredet hat. Ich habe meiner Mutter versprochen, immer auf sie achtzugeben. Ich …«
Artax strich ihr sanft über die tränennasse Wange. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Stumm verfluchte er sich für seine Arroganz. Er hätte auf den Löwenhäuptigen hören sollen! Er hätte niemals hierherkommen dürfen.
»Es hat mir viel bedeutet, dass Ihr sie geküsst habt, Erhabener. Ich …« Sie ergriff seine Hand, presste den Handrücken gegen ihre Stirn und küsste ihn dann. »Ich … Danke!«
Artax konnte es nicht fassen. Er hätte erwartet, dass sie ihn verfluchte! Noch immer standen alle auf dem Hof still und blickten zu ihm hinüber.
»Wir werden deine Schwester nach Hause bringen. All unsere Toten. Noch heute Morgen!« Er sagte es so laut, dass alle auf dem weiten Hof ihn verstehen konnten. Mit den Worten kehrte sein Wille zurück, etwas zu unternehmen. Er entdeckte Datames im Toreingang und winkte ihm zu kommen.
Das Mädchen küsste noch einmal seine Hand und zog sich zurück.
»Weißt du, was in der letzten Nacht vorgefallen ist? War es Brandstiftung oder ein Unfall?«
Der Hofmeister blickte beklommen zu den Dienern, die wieder ihren Arbeiten nachgingen. »Ich habe mir vor allem die Halle angesehen, in der der Harem einquartiert war, Erhabener«, sagte er leise. »Durch den Brand sind viele Spuren verwischt. Und durch den Eifer der Helfer aus dem Palast. Für mich hat es den Anschein, als sei das Feuer an mehreren Stellen dieser Schilfhalle gleichzeitig ausgebrochen. Ein langsames Schwelen, bei dem viel Rauch ins Innere drang. Der Harem ist die einzige Halle, in der es keine Überlebenden gab. Keine Flüchtenden. Sie alle sind im Schlaf erstickt — was ungewöhnlich ist. Fast, als habe jemand einen Bannzauber über die Schlafenden gelegt.«
Artax schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hatte schon viel über Zauberei reden hören, aber noch nie gesehen, dass jemand Magie anwenden konnte. Außer in jenem Tal, viel zu nah seinem Heimatdorf. »Willst du andeuten, dass Išta …«
»Einen Hofzauberer hat Muwatta jedenfalls meines Wissens nicht.«
Wütend ballte Artax die Fäuste. Was tat der Löwenhäuptige für ihn? Hätte er ihn und die Seinen nicht in der letzten Nacht beschützen können? Wo war er jetzt schon wieder? Warum mischte er sich nicht ein?
»Und unsere Wachen?« Es gelang Artax nicht, seine Wut zu beherrschen, während er sprach. »Wo waren unsere Wachen?«
»Man hat ihnen gestern ein sehr opulentes Mahl serviert und etliche Amphoren mit Wein. Natürlich nur, weil zum Fest der Himmlischen Hochzeit alle in der Stadt besonders gut gespeist werden. Ich schätze, die meisten von ihnen waren betrunken und haben auf ihren Posten geschlafen. Obwohl sie das natürlich entschieden abstreiten.«
Artax fluchte. »Ich sollte sie …«
»Begnadigen, Erhabener. Oder besser noch, gar nicht erst anklagen. Es sind gute Männer. Sie wurden getäuscht, so wie wir. Und sie leiden an dem, was geschehen ist. Sie alle haben gestern Nacht versucht zu retten, was noch zu retten ist. Keiner von ihnen ist unverletzt geblieben, vier sind tot. Sie brauchen keine Strafe mehr.«
»Keine Strafe dafür, dass sie nicht auf Wache waren? Das ist das Ende der Ordnung!«
»Und wer bestraft den, der uns wider besseres Wissen hierhergeführt hat, Erhabener? Hat er nicht all diese Männer und Frauen mindestens genauso auf dem Gewissen wie die Wachen, die nicht auf Posten waren?«
Artax sah den Hofmeister scharf an. Noch nie war Datames ihm gegenüber so aufsässig gewesen. Doch Datames hielt dem Blick stand. Artax war überrascht, wie viel Selbstsicherheit sein Hofmeister ausstrahlte. Seit der Devanthar ihn zum unsterblichen Aaron gemacht hatte, war er noch keinem Mann begegnet, der seinem Blick standzuhalten gewagt hätte.