Er dachte an Nandalee. Hoffentlich hatte sie ihn nicht durch Pieps Augen gesehen, nicht so! Das sollte nicht ihr Abschied sein …
Endlich erreichte er die Tanne. Ihr dichtes Geäst hatte den Schnee ferngehalten. Erschöpft lehnte er sich gegen den Stamm. Die Wölfe schwiegen nun. Sammelten sie sich?
Aufrecht sitzend sah er auf seine Beine hinab. Auf die zerrissene, blutige Hose. Den Knochen, der dicht unter seinem Knie aus den Lumpen ragte. Erstaunlich, dass er keinen Schmerz spürte, dachte er nüchtern. Und dass er nicht längst verblutet war. Das musste der Zauber des Holunderbaums sein! Matha Naht hatte gewollt, dass seine Qual lange währte.
Er könnte ihr den letzten Kampf verweigern. Konnte dafür sorgen, dass die Wölfe nur noch Aas fanden. Gonvalon blickte auf den Dolch in seiner Hand.
Köpfe auf Speeren
Volodi sah den Steppenreiter überrascht an.
»Du musst das verstehen, Bruder!«, sagte Partatu, ohne ihm dabei in die Augen zu blicken. »Sie ziehen Reiter an der Grenze zusammen. Ein paar Sippenlose und einige unverheiratete Männer werden sicher bei euch bleiben, aber …« Partatu zuckte mit den Schultern. »Du weißt, wie das ist.«
»Willst du sagen damit, dass ich wisse, wie ist Freunde im Stich zu lassen? Willst du beleidigen mich? Oder bist nur dumm? Ich dir werden zeigen …«
Juba legte ihm die Hand auf die Schulter. »Unser Freund Volodi meint das nicht so. Er kennt deine Sorgen.«
»Ich nix kenne …«
Juba drückte mit der Hand fester zu und Volodi schluckte seinen Ärger hinunter. Der Feldherr hatte recht. Wenn er Streit mit diesem flachgesichtigen Halsabschneider anfing, würden ihnen die Steppenkrieger nicht nur davonlaufen – nein, sie würden sich gegen sie stellen. Der Drusnier zwang sich zu einem Lächeln. »Ich haben Spaß gemacht.«
Sein Gegenüber schenkte ihm ein noch unehrlicheres Lächeln. »Ich wusste das. Ich gebe dir jetzt einen Rat, der kostbarer als hundert Eisenschwerter ist. Nehmt eure Gäule und rennt! Mit den Luwiern reitet der Tod. Wir werden mit unseren Herden und Familien weit fort sein, wenn sie kommen.«
»Ich immer denken, ihr seid harte Krieger, gehen nach Luwien plündern.« Volodi gab einen gespielten Seufzer von sich. »Ist sich schlecht, die Welt. Nur Lügen …«
Verletzter Stolz blitzte in den Augen des Steppenreiters. »Wir überfallen sie manchmal, das stimmt schon. Stehlen ein paar Weiber und etwas Vieh.« Er hob beide Hände in einer Geste unschuldiger Verzweiflung. »Ja, manchmal schlagen wir dabei ein paar Schädel ein und ein paar Häuser gehen in Flammen auf. Das kann passieren, wenn Männer ein bisschen Spaß haben wollen. Aber die Luwier … Sie kennen kein Maß! Wie die Heuschrecken kommen sie über die Steppe. Sie sind ohne Zahl und töten alles, was lebt. Wenn sie eines unserer Lager überfallen, metzeln sie Frauen und Kinder nieder. Das Vieh. Sogar die Hundewelpen erschlagen sie. Sie nehmen nichts von uns. Keine Weiber, um sich mit ihnen zu vergnügen. Keine Kinder als Sklaven. Kein Vieh. Nichts! Das ist, als würden sie einem ins Gesicht scheißen!« Der Steppenreiter ballte seine Fäuste. Er zitterte vor Wut. »Ich kann das nicht verstehen! Wir kommen, um zu rauben. Weil wir haben wollen, was sie haben. Aber wenn die Luwier in die Steppe reiten, dann kommen sie nur, um zu töten. Manche sagen, ihre Krieger sind gar keine richtigen Menschen. Sie haben sie aus alten Gräbern geholt.«
Volodi dachte daran, wie die Mannschaften der Zinngaleeren ermordet worden waren. Er kannte diese Art, Krieg zu führen, und schämte sich dafür.
»Sei nicht mehr hier, wenn sie kommen, Volodi. Das ist der beste Rat, den du in deinem ganzen Leben bekommen hast. Fahrt schnell wie der Wind. Vergesst eure Pläne. Sie wissen davon. Sie wissen alles. Flieht!«
Volodi umarmte den kleineren Steppenkrieger und küsste ihn auf beide Wangen. Er hatte ihn falsch behandelt. »Ich dir wünschen guten Ritt, fette Kühe und Jurte voll mit Kindern, Partatu.«
Volodi konnte spüren, wie Juba sich neben ihm anspannte. Doch der Steppenkrieger wusste seine Worte richtig zu nehmen. »Wir werden losziehen und ihnen die hübschesten Weiber klauen, Goldhaar. Ganz wie richtige Männer! An einem anderen Tag.«
»Wir werden tun!«
Partatu wandte sich ab. Man sah ihm den angeschlagenen Stolz an, als er sich in den Sattel zog. Der Steppenreiter hob noch einmal die Hand zum Gruß, dann zog er sein struppiges Pony um den Zügel und preschte davon. Er nahm fast fünfhundert Reiter mit sich.
Volodi sah ihnen schweigend nach. Der laue Südwind blies ihm ins Gesicht und spielte mit seinem langen Haar. Er mochte den Wind, dachte der Drusnier. Besonders den Fahrtwind, wenn er mit dem Streitwagen über die Steppe stürmte. Das war besser als alles andere! Allerdings vermisste er das Rauschen der Bäume in seiner Heimat. Hier gab es kaum einen Baum. Nur endloses Grasland, das in sanften Hügelwellen bis zum Horizont reichte. Ab und an ragte eine Felsnadel aus der Steppe. Auch gab es vereinzelt vom Wind geducktes Gebüsch. Doch das war alles, woran das Auge verweilen konnte. Es war wie auf dem Meer, nur dass es hier keine Küstenstreifen gab, an denen man zur Nacht die Galeeren auf den Strand zog. Er vermochte sich hier kaum zu orientieren und war ganz auf die Führer aus dem Volk der Steppenreiter angewiesen.
»Man kann Männern nicht trauen, die auf Pferden reiten, statt sie vor einen Streitwagen zu spannen, wie es sich gehört«, murrte Juba.
Volodi nickte, aber im Grunde war er der Ansicht, dass es die Pferde waren, denen man nicht trauen konnte. Er hatte einige Male versucht zu reiten, was jedes Mal eine peinliche Angelegenheit geworden war. Er würde sich nie wieder auf ein Pferd setzen! Wenn man mit einem Schwert im Gedärm starb, weil man vor einer Schlacht zu viel gesoffen hatte, dann war das ein passabler Tod. Aber von einem Gaul zu fallen und sich das Genick zu brechen – so sollte kein Krieger sterben!
»Während du heute Morgen mit unseren treuen Verbündeten palavert hast, ist ein Botenreiter vom unsterblichen Aaron eingetroffen. Mögen die Schwingen der geflügelten Sonne dem Erhabenen Schatten spenden.«
Er würde sich nie an dieses schwülstige Hofgefasel gewöhnen, dachte Volodi. »Was er schreiben?«
Juba zog eine kleine Holzkladde aus seinem Gürtel, klappte sie auf und hielt sie ihm hin. Zwischen vergoldeten Rahmen waren zwei gebrannte Tontafeln eingelassen. »Wir haben den Befehl zum Angriff!«
»Ja! Endlich ist Ende von Warten gekommen. Endlich!« Volodi betrachtete die Tafeln näher. Diese Schrift … Das würde er genauso wenig lernen wie reiten! Die Tafeln sahen aus, als sei ein kleiner Vogel über feuchten Ton gewandert. Einzig der Abdruck des Rollsiegels sagte dem Drusnier etwas. Der Mann im Streitwagen unter der geflügelten Sonne, der über niedergestreckte Feinde hinwegpreschte. Das war das Siegel des Unsterblichen. Ohne Zweifel. Niemand sonst im Reich würde wagen, es zu benutzen.
»Machst du dich mit den Einzelheiten des Befehls vertraut?«, spottete Juba.
Volodi lächelte den Feldherrn an. »Weiße du, große Krieger hat sich immer einen Diener, der kann lesen ihm vor. Aber Vorleser hat sich selten große Krieger als Diener.«
Juba entging die Stichelei offensichtlich nicht, aber er wirkte nicht verärgert. Für einen Krieger, der viel Zeit bei Hof verbrachte, war er ein erstaunlich anständiger Kerl. Anfangs hatte Volodi ihn nicht gemocht, doch die Wochen in der Steppe hatten ihn Respekt vor dem bulligen, muskelbepackten Kerl gelehrt, der mehr als einen Kopf kleiner war als er. Juba war ein guter Kriegsmeister. Einer von denen, der mit seinen Männern aus demselben Napf fraß. Die Männer mochten ihn.
»Nachdem unsere Rangfolge geklärt wäre, sollten wir entscheiden, auf welchem Weg wir uns nach Aram durchschlagen. Wir haben hier zu lange gewartet! Der Zeitpunkt für einen überraschenden Überfall ist verstrichen. Wir sind gescheitert.«
»Nix wir sind!«, entgegnete Volodi aufgebracht. Wie konnte man so leicht alles hinwerfen! »Sind wir gescheitert, wenn liegen in Staub und unsere Köpfe stecken sich auf Speeren von Luwiern!«