Juba war sich nicht sicher, was er von dieser Rede halten sollte. Volodi hatte es nicht geschafft, die Herzen der Männer zu gewinnen, aber immerhin waren sie ruhig. Schweigend sahen sie zu, was der Drusnier tat.
Volodi stemmte den Streitwagen hoch und setzte ihn sich auf die Schultern, sodass die Deichsel weit zur linken Seite ragte. »Hat sich unsterblicher Aaron tief gedacht, als hat uns geschickt mit diese Wagen. Wagen von Aram sind leicht! Kann sich ein Mann auf Rücken tragen. So kann Wagen überall hinkommen. Auch über Berge! Ihr faul seid, aber nicht schwach. Nehmt Wagen! Folgt mir. Und redet nicht!« Mit diesen Worten trat der Drusnier auf den gefährlichen Saumpfad. Die Deichsel ragte weit über den Abgrund und man konnte sehen, wie der Wind an den Seitenwänden aus Rohleder zerrte.
Juba musste sich eingestehen, dass er den Söldner falsch eingeschätzt hatte. Vielleicht lag es an der Art, wie er sprach. Vielleicht auch einfach daran, dass für Volodi Loyalität eine Frage des Geldes war. Aber ganz ohne Zweifel war er weder dumm noch feige.
Einige der Männer schlossen Wetten ab, ob Volodi in den Abgrund stürzen würde. Noch immer war die Sache in der Schwebe. Würden die Truppen meutern?
»Ich weiß nicht, was ihr denkt«, rief Juba. »Aber ich weiß, dass ich mir nicht nachsagen lassen will, dass dieser Hinterwäldler mehr Mut hat als ich. Ich bin an der Küste aufgewachsen«, log er. »Ich bin allein aufs Meer hinaus, da war ich nicht einmal zehn. Das erfordert Mut!« Er wies seinen Wagenlenker an, die Hengste auszuschirren und die Räder abzunehmen. »Was Volodi macht, erfordert nur Kraft. Folgen wir ihm und erinnern ihn daran.«
Seine Worte waren kein großer Erfolg. Reden zu halten war nie eine seiner Stärken gewesen. Und Ruhm und Ehre waren diesen Männern egal. Er hatte einen Fehler gemacht, als er daran appellierte. Noch ein Fehler, und diese Lumpen schlugen sich vielleicht wieder auf die Seite der Luwier.
Juba kletterte auf den Fels, auf dem Volodi eben gestanden hatte. Er blickte zum Saumpfad. Der Drusnier ging tief gebeugt. Schwankend, aber stetig kämpfte er sich Schritt um Schritt voran. Ein Stück tiefer, nah am Steilhang, zog ein großer, brauner Raubvogel seine Kreise. War es ein Zeichen der Götter, ja vielleicht einer der Götter selbst, der in Vogelgestalt erschienen war, um diesem dramatischen Augenblick beizuwohnen? Würde Volodi es schaffen? Solange sein Gefährte sich vorankämpfte, sollte er die Truppen bei Laune halten. Zweifelnd blickte er auf die Halunken, die unter seinem Befehl standen.
»Ich will euch nichts vormachen, Männer. Ihr seid eine üble Bande von Halsabschneidern. Euch will man nicht im Dunklen begegnen. Ihr habt wenig zu verlieren.«
»Und wir nix lassen sagen uns von Sack von Dreck, der hat Macht nur von Namen von Familie!«
Das war schon wieder Kolja. Verdammter Aufwiegler. Der Drusnier war ein Hüne von einem Mann. Zwei Schritt groß, mit einem Kreuz wie ein Stier und einem Gesicht, vor dem sich gewiss seine eigene Mutter fürchtete. Er war von Narben entstellt. Den Narben eines Faustkämpfers, dem Hunderte Male Fäuste ins Gesicht geschlagen hatten, um die mit Bronzescheiben beschlagene Lederriemen geschlungen waren. Seine Nase war nur noch ein formloser Klumpen, ebenso eines seiner Ohren. Kolja bot ihm offen die Stirn. Vielleicht war es ganz gut, wenn er sich nur auf einen dieser Mistkerle konzentrieren konnte. Das war leichter, als mit einer gesichtslosen Masse zu reden.
»Was weißt du von mir, Drusnier?«
»Du trägst Ringe von Gold an sich Arme, schmierst in sich Bart Öl und kannst du blasen Worte schön in sich Ohr von unsterbliches Aaron. Was ich da wissen muss? Du bist Mann leben leicht von Arbeit von andere Männer. Hast du von ersten Tag auf Welt an geschissen in Seide!«
»Mein Vater hatte mehr Flöhe in seinem Bett als Sklaven auf den Feldern. War die Ernte schlecht, haben wir uns durch den Winter gehungert wie alle anderen auch. Aber was reden wir von der Vergangenheit – da hat jeder seine eigenen Geschichten. Reden wir lieber von der Zukunft, denn die teilen wir.« Er deutete über die Köpfe der Söldner hinweg auf den Weg, den sie gekommen waren. »Irgendwo hinter uns marschieren ein paar tausend Luwier. Ich wette, die wissen, dass ihr Muwattas Gold genommen und dann die Seiten gewechselt habt. Natürlich steht euch frei, Kolja zu folgen und mich hier in die Schlucht zu stürzen. Kolja ist ein ausgezeichneter Mann. Ich sehe vor mir, wie er vor den Befehlshaber der Luwier tritt und ihn mit seinem hübschen Gesicht und guten Argumenten überwältigt. Auch bei den Luwiern sind es die hochwohlgeborenen Scheißer, die die Krieger des unsterblichen Muwatta befehligen. Ich weiß nicht, welcher Mann an der Spitze des Heeres steht, das uns verfolgt, aber ich wette, er wird eine hohe Meinung von Kolja haben. Solche Männer haben immer großen Respekt vor Aufrührern.«
Ein Pferd wieherte irgendwo in der Menge. Der Wind zerrte an Jubas Umhang. Die Männer starrten schweigend zu ihm auf. Ihm war kalt. Viel kälter, als es einem Sommertag in den Bergen angemessen war. Ihm war klar, dass diese Rede über sein Leben entscheiden würde. »Ich habe euch Halsabschneider genannt. Und ich fühle mich unter euch in guter Gesellschaft. Ich habe nicht in Seidenwindeln geschissen. Ich weiß, wie es ist, wenn man das letzte bisschen Brei aus seiner Holzschale leckt und immer noch hungrig unter seine Decke kriecht. Die Zeiten sind lange vorbei. Jetzt bin ich der oberste Halsabschneider des unsterblichen Aaron. Ich habe in sieben Schlachten gekämpft und in unzähligen Scharmützeln. Ich bin, was ich bin, weil ich nicht verliere. Ihr könnt Kolja folgen und den Luwiern in die Arme laufen. Oder ihr könnt mir folgen, dorthin, wo die Luwier nicht mit uns rechnen und wo es eiserne Schwerter als Beute gibt. Ohne Kampf wird es auch mit mir nicht abgehen. Aber die Luwier kennen meinen Namen und sie fürchten ihn. Was aber werden sie wohl denken, wenn sie hören, dass der ruhmreiche Kolja euch anführt? Werden sie eine Hand auf ihren Geldbeutel legen und dann ihren Kriegern befehlen, mit euch das zu machen, was die Hochwohlgeborenen schon seit Anbeginn der Zeiten mit Dieben machen? Ich weiß es nicht — und ich will es nicht wissen. Und deshalb folge ich jetzt Volodi.«
Juba ließ sich von zwei Kriegern helfen, seinen Streitwagen auf die Schultern zu heben. Er war leichter als ein Kornsack. Wie alle anderen Streitwagen in der Armee des Unsterblichen Aaron war er aus Eschenholz gefertigt, das man über heißem Wasserdampf in Form gebogen hatte. Der Kasten, in dem er und sein Wagenlenker Schulter an Schulter standen, war im Grunde nur ein Rahmen aus Holz. Der Boden wurde aus Rohleder gefertigt, ebenso der Frontteil. An den Seiten gab es keinen Schutz. Nur Köcher für Pfeile und die kurzen Wurfspeere, die im Streitwagenkampf benutzt wurden. Die Streitwagen waren leicht und schossen schnell wie Falken über das Schlachtfeld. Ganz anders als die Wagen der Luwier. Sie trugen drei oder vier Mann Besatzung, waren fast ganz aus Holz gezimmert und wurden von vier Pferden gezogen. Sie waren dazu geschaffen, wie Rammen aus lebendem Fleisch durch die Schlachtreihen der Feinde zu brechen. Die Streitwagen Arams hingegen suchten den Weg um die Flanken, um den Gegner im Rücken zu treffen und seine Reihen durch Pfeile und Wurfspeere in Unordnung zu bringen. Juba wusste, dass sie den Streitwagenschwadronen Luwiens in offener Schlacht ohne die Unterstützung von Fußtruppen nicht gewachsen waren. Sie konnten den Luwiern bestenfalls davonfahren. Ihnen blieb gar keine andere Wahl, als diesen verdammten Saumpfad zu nehmen.
Das Eschenholz drückte ihm auf die Schultern, Wind verfing sich in der Rohlederfront des Streitwagens und es fühlte sich an, als seien die Geister der Berge auf ihn herabgestürmt, um ihn mit unsichtbaren Krallen in den Abgrund zu zerren. Holz schrammte über die Felswand. Er musste dichter am Abgrund gehen. Zwei Fuß breit trennten ihn vom Tod. Unter ihm flog der große Raubvogel, der auch schon Volodi begleitet hatte. Ein Adler. Der König des Himmels! Das konnte kein schlechtes Omen sein, dachte Juba. Die Spitzen der weit ausgebreiteten Adlerschwingen zitterten im Wind. Wie es wohl war zu fliegen?