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Juba wandte den Blick ab. Dieser Abgrund war verlockend. Er versprach einen Augenblick unvergleichlichen Hochgefühls, gefolgt von gnädigem Vergessen. Die Berggeister heulten zornig auf und versuchten mit aller Kraft, ihn in die Tiefe zu schleudern. Kalter Schweiß rann Juba über Stirn und Wangen. Nur ein Schritt und alle Mühen hätten ein Ende. Vielleicht war ein langer Sturz ja sein Schicksal? Wäre Aaron nicht gewesen, hätte es sich schon erfüllt, als sie mit dem fliegenden Palast in den Sturm geraten waren. Nun streckte das Schicksal erneut die Hand nach ihm aus und diesmal war kein Unsterblicher hier, um ihn zu retten. Er musste es ganz alleine schaffen.

Juba biss die Zähne zusammen und starrte auf den Weg unmittelbar vor seinen Füßen. Das war die ganze Welt. Er würde sie erobern, Schritt um Schritt. Er schuldete Aaron sein Leben. Er durfte es jetzt nicht einfach wegwerfen. Der Unsterbliche brauchte ihn! Ohne ihn war Aaron hilflos. Wer wagte es schon, einem Unsterblichen die Meinung zu sagen? Wer würde die Blutarbeit für Aaron erledigen? Dem Unsterblichen fehlte die Härte, um zu herrschen. Ein Reich musste geführt werden. Das Volk musste einen Weg gezeigt bekommen.

Wie Aaron wohl seine Härte verloren hatte? Hatte der lange Sturz sie von ihm genommen? Und was würde er wohl verlieren, wenn er stürzte?

Vorsichtig blickte er über den Wegrand. Der Adler unter ihm war verschwunden. Er sah einen Hang, auf dem mächtige Zedern wuchsen. Was für närrische Fragen er sich stellte! Sein Leben würde er verlieren, wenn er stürzte. Das war alles!

Er musste den verdammten Abgrund ignorieren! Er kniff die Augen leicht zusammen und wandte den Kopf nach rechts, so dass er nur noch Felsen sah. Den Weg unter seinen Füßen. Die Steilwand, aus der der Saumpfad geschlagen war. Steine.

Starren.

Noch einen Schritt.

Noch einen …

»Hast du Spaß, machen Arbeit von Pferd? Ist sich Engpass vorbei. Kannst du rasten.«

Juba hob den Kopf. »Blödmann!« Er blickte zurück. Er war ein ganzes Stück zu weit gegangen. Die anderen folgten ihm. Waren es seine Worte gewesen? Hatte er das Feuer in ihren Herzen neu entfacht? Oder hatten sie einfach nur begriffen, dass sie nicht auf die Gnade der Luwier hoffen durften? Erleichtert setzte er den Streitwagen ab. »Warum hast du mich weiter laufen lassen als notwendig, du Mistkerl?«

»Sieht man Kriegsmeister selten sich schwitzen.« Er lachte. »Du gewonnen hast. Dachte ich, dass mein Kreuz sich müssen brechen entzwei. Dachte ich, willst du mir zeigen, dass kannst du Streitwagen weiter tragen als ich«

Juba sah ihn fassungslos an. Er glaubte ihm.

Holunderzauber

Er war so blass. Seine Haut war weiß wie das Bettlaken, auf dem er hingestreckt lag. Ganz, als habe er all sein Blut an Matha Naht und ihre Wölfe gegeben. Unverwandt starrte er auf die Decke hinab, doch wusste sie, dass er noch viel weiter sah. Sein Anblick schmerzte sie mehr als der irgendeines anderen verlorenen Kindes. Sie hätte ihn niemals zu Matha Naht bringen dürfen!

Lyvianne hatte gespürt, dass er zurückgekommen war, aber zunächst hatte sie ihrem Gefühl nicht vertraut. Sie war ihn erst suchen gegangen, als sie die Misteldrossel gesehen hatte. Sie war schneller als die Wölfe gewesen. Und doch nicht schnell genug …

Sie trat an sein Bett. Er bemerkte sie nicht. Starrte immer nur weiter ins Nichts. Alle trauerten um ihn. Doch keine tat es so wie sie. Zärtlich strich sie ihm über die Stirn. »Mein Winterkind«, flüsterte sie. »Mein verlorenes Kind.«

Sie war so stolz auf ihn gewesen. Sie hatte ihn aufgegeben. Und er hatte ihr bewiesen, dass sie sich geirrt hatte. Als Einziger!

Lyvianne öffnete ihr Verborgenes Auge. Matha Naht war wahrlich eine Meisterin. Sie war die Dunkelheit! Ihre Lehrerin. Hätte sie nur nie diesen Weg beschritten! Etwas wie diesen Zauber hatte Lyvianne noch nie gesehen. Perfide und zugleich vollkommen. Durch und durch böse. Unberührbar! Er war geradezu ein magisches Spiegelbild Matha Nahts. Lyvianne wagte es nicht, an ihn zu rühren. Dieses Gespinst zu zerreißen hieße, alles zu zerstören.

Müde ließ sie sich neben Gonvalon nieder. Seit sie ihn gefunden hatte, hatte sie kaum geschlafen, und er hatte nie die Augen geschlossen. Kein einziges Mal. Ohne zu blinzeln, starrte er schweigend auf die Decke. Dorthin, wo seine Füße waren. Er war hier und zugleich war er es nicht.

Er aß kaum. Wie ein Kind fütterte sie ihn mit einem Löffel. Manchmal vergaß er zu schlucken. Dann lief ihm die Brühe aus den Mundwinkeln.

»Mein Kind«, flüsterte sie. Leise summte sie das Gutenachtlied, das er so gern gemocht hatte. Er konnte sich daran nicht erinnern. Sie allein verwahrte all seine Erinnerungen an seine frühe Kindheit. Sie hatte sie ihm entrissen. Ein Zauber, den sie von Matha Naht gelernt hatte.

All ihre Traurigkeit legte sie in die Melodie, ließ all ihren Schmerz durch ihre Stimme fließen. Dann kamen die Worte. Ungewollt.

Schattenweber, Träumegeber, wandern durch die Nacht.

Ein Geräusch schreckte sie auf. Ein leises Flattern. Der Vogel! Er war nie weit fort von der Weißen Halle. Aber wie war er hierhergelangt? War er wieder von Nandalee besessen?

Die Misteldrossel ließ sich auf einem der Bettpfosten nieder, und Gonvalon drehte ihr den Kopf zu. Es war das erste Mal, dass er sich aus eigenem Antrieb bewegte, seit sie ihn gefunden hatte. Auch sein Blick hatte sich verändert.

Eine einzelne Träne rann über seine Wange.

»Nandalee«, sagte sie leise. »Nan…«

Er zuckte zusammen wie unter einem plötzlichen Krampf. Seine Lippen zitterten und blieben doch unfähig, ein Wort zu bilden.

»Nandalee!«, sagte sie jetzt lauter, drängender. »Erinnerst du dich? Du hast sie geliebt. Erinnere dich!«

Gonvalon wandte den Kopf ab und blickte wieder auf die schneeweiße Decke. Auf das Fußende.

»Bitte, Gonvalon. Du darfst Matha Naht nicht glauben. Sie täuscht dich!«

Er reagierte nicht, hatte sich wieder ganz in sein sprachloses Starren zurückgezogen.

»Nandalee.« Sie versuchte erneut, mit dem Zauber dieses Namens den Bann zu brechen. Dem einzigen Zauber, der ihm nicht schaden würde.

»Du wolltest sie suchen. Erinnere dich! Nandalee! Vielleicht ist sie sogar hier. Sieh ihn an. Sieh den Vogel an. Sie ist zu dir gekommen! «

Er begann zu zittern. »Sie … Sie ist nicht hier!«

Lyvianne küsste ihn auf die Stirn. »Komm zurück. Komm zurück und kämpfe! Lass dich nicht besiegen. Nicht durch Trugbilder. «

Er wandte den Kopf und sah sie an. Hätte ein glühendes Eisen sie berührt, so hätte der Schmerz nicht tiefer sein können als der Schmerz, den ihr dieser Blick bereitete.

»Wie sollte ich je wieder kämpfen – ohne Beine?«

Lyvianne riss die Decke zurück. »Da sind sie. Sieh sie dir an! Es ist nicht wahr. Sie hat dich getäuscht!«

Die Beine waren mit Schorf bedeckt. Die Spuren unzähliger Bisse zeichneten die blasse Haut. Aber sein Fleisch heilte gut. Er würde sich wieder ganz erholen. Sein Körper …

»Deck sie wieder zu! Ich kann ihren Anblick nicht ertragen. Bitte deck sie wieder zu.«

Lyvianne atmete schwer aus. Das war nicht mehr Gonvalon. Matha Naht hatte den Mann, der einmal einer der besten Schwertkämpfer der Drachenelfen gewesen war, zerbrochen. Er bildete sich ein, ein Krüppel zu sein.

Nach langem Schweigen nahm sie seine rechte Hand und führte sie hinab zu seinem Bein. »Was fühlst du?«

Seine Wangenmuskeln zuckten. »Da ist noch der Knochen. Er ist immer noch da! Warum habt ihr die Wunde nicht gut versorgt? Warum …«

»Würden wir das tun? Würden wir dich in die Weiße Halle holen und deine Beinstümpfe nicht gut versorgen?«

Er sah sie fassungslos an. Tiefe dunkle Ränder lagen unter seinen Augen. Kleine Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. »Ich kann es doch fühlen …«

»Matha Naht hat dich mit einem Gespinst trügerischer Zauber umwoben. Du bist nicht schwer verletzt. Nur deine Seele …«