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»Aber ich kann meine Beine nicht mehr spüren«, begehrte er auf. »Sie sind … Wenn ich dort hinsehe, dann sind da nur noch Stümpfe. Wenn ich auf die Decke blicke, dann liegt sie unterhalb meiner Knie flach! Da ist nichts!«

Was sollte sie noch sagen? Er war vollkommen gefangen in den Trugbildern, die Matha Naht erschaffen hatte. Für ihn war das seine Wirklichkeit geworden. Lyvianne wusste nur zu gut, wie meisterlich die Zauber des Holunderbaums gewoben waren.

Ihr Blick wanderte durch das kleine Zimmer, in dem Gonvalon lebte. Obwohl sie beide schon seit Langem Meister an der Weißen Halle waren, war sie nie zuvor hier gewesen. Die Kammer entsprach ihm. Sie war nur karg möbliert. Abgesehen von einigen ungewöhnlich geformten Steinen auf der Fensterbank gab es keinerlei Schmuck. Nichts Persönliches. Anders als die meisten übrigen Meister hatte er die vorhandenen Möbelstücke nicht mit der Zeit durch schönere ersetzt, die seinem Geschmack entsprachen. Eine Kleidertruhe, das Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen. Das war seine Welt. Und ein Fenster mit einem schönen Blick auf den Park und die Berge.

Die kleine Misteldrossel zwitscherte aufgeregt. Was wollte sie? Sie hüpfte auf das weiße Laken. Vor Aufregung hinterließ sie einen Klecks auf dem makellosen Betttuch. War sie besessen? Lyvianne betrachtete sie durch ihr Verborgenes Auge. Das Rot der Kraftlinie, die den Vogel mit Nandalee verband, erschien ihr wie ein Makel. Sie konnte Matha Naht auch in diesem Zauber spüren. Und Gonvalon! Der Zauber zehrte an ihm. Mit jedem Herzschlag trank er von seiner Lebenskraft.

Wieder betrachtete sie das dichte Gespinst von Kraftlinien, das ihn umgab.

»Was siehst du?«

Lyvianne zuckte zusammen, so unerwartet und schroff kam seine Frage. »Den Zauber, den Matha Naht gewoben hat.«

»Warum brichst du ihn nicht? Ist sie so mächtig, dass man ihre Werke nicht zerstören kann?«

»Nicht so kraftvoll«, erwiderte sie traurig. »So heimtückisch. Sie hat ihre Zauber mit deiner Aura verwoben. Mit deiner Lebenskraft. Zerreiße ich dieses Gespinst, wirst du Schaden nehmen. Vielleicht würde ich dich sogar töten. Nur du allein hast die Kraft, gegen den Zauber anzugehen. Du kannst ihn nicht auf magischem Wege überwinden. Du musst dir bewusst werden, dass sie dir Trugbilder vorgaukelt. Das ist der einzige Weg.«

»Meine Schmerzen bilde ich mir nicht ein«, sagte er bitter und blickte auf das Betttuch, dorthin, wo seine Füße waren und der kleine Vogel hockte.

Lyvianne dachte an die Qualen, die der Preis für das Wissen gewesen waren, das sie von Matha Naht erlangt hatte. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie meisterhaft der beseelte Holunder die Wirklichkeit verdrehte, bis man selbst die Grenze zum Wahnsinn erreichte. Sie war nicht als Einzige zu dem Holunder gekommen. Manche hatten nicht überlebt. Andere waren an dem verzweifelt, was Matha Naht aus ihnen gemacht hatte. Plötzlich packte sie Wut auf ihren Sohn. Er hatte sie überrascht. Er war zu etwas Besonderem geworden, nachdem sie ihn aufgegeben hatte. Doch nun hatte er aufgehört zu kämpfen … Letztlich hatte sie sich also nicht in ihm getäuscht. Der Makel der Schwäche haftete ihm an!

Lyvianne erhob sich. Ihr Blick fiel auf einen Stiefelschaft, der unter dem Bett hervorlugte. Vielleicht … Sie nahm die Stiefel. Vielleicht konnten sie helfen.

»Sieh dir die Stiefel an!«

Gonvalon blickte nicht auf. Ärgerlich zog Lyvianne das Betttuch fort. Die Misteldrossel brachte sich protestierend in Sicherheit. »Behalt einfach nur die Stiefel im Auge«, sagte sie und streifte den ersten über Gonvalons rechten Fuß. Sie zog ihn nicht hoch, damit der enge Schaft nicht auf die tatsächlich vorhandenen Wunden drückte oder den Schorf abrieb. Sie legte ihm den zweiten Stiefel an. »Und? Was siehst du?«

Er starrte noch immer, doch in seinem Gesicht arbeitete es.

»Siehst du keine Stiefel mehr? Blickst du immer noch auf deine Stümpfe? Wie kann das wohl sein? Glaubst du, ich habe die Stiefel verschwinden lassen?«

Gonvalon beugte sich vor und tastete nach seinen Füßen. Er kniff die Augen zusammen. »Sie sind nicht da. Das ist … Ich kann nicht …«

»Ja, sie ist eine Meisterin. Sie hat dich zum Sklaven ihres Illusionszaubers gemacht. Willst du den Rest deiner Tage ihr Sklave sein?«

»Ich sehe sie nicht. Ich kann sie nicht berühren. Ich spüre nichts.«

»Du stehst jetzt auf!« Lyvianne hielt ihm den Arm hin.

Er zögerte noch einen Herzschlag, dann schwang er die Beine über den Bettrand, stützte sich auf sie und richtete sich auf. Seine Beine knickten weg und er fiel ihr in die Arme.

»Ich fühle den Boden nicht.«

Er sagte das ganz nüchtern. Wenigstens jammerte er nicht mehr.

»Du wirst neu laufen lernen. Du wirst lernen, damit zu leben. Du bist Gonvalon. Dein Name ist Legende. Du gibst nicht auf.«

»Nandalee …« Er blickte zum Fenster. »Sie ist irgendwo dort draußen. Ich werde sie finden.« Er versteifte sich und streckte die Arme aus, um die Balance zu halten. »Ich werde sie finden«, sagte er noch einmal mit Nachdruck. Und dann ging er vorwärts. Einen kleinen, einen winzig kleinen Schritt.

Lyvianne lächelte. Kämpfe, mein Sohn, dachte sie. Kämpfe!

Aus der Balance

Talawain legte die siebzehnte Blüte in den Bach. Kreiselnd glitt sie im Wasser davon. Der Elf kniete auf einem großen Stein am Ufer. Er war allein. Der Palast lag fast einen Tagesritt entfernt. Er straffte sich, drückte den Rücken durch und sah den treibenden Blüten nach. Schneeweiß. Vollkommen. Jede einzelne von ihnen. Er hatte Stunden damit verbracht, sie auszuwählen und – sorgsam auf feuchte Seide gebettet – in Spanschachteln zu verpacken, damit sie unbeschadet die Reise hierher überstanden. Er hatte mehr Zeit mit der Auswahl der Blüten verbracht als mit der Auswahl der Haremsdamen für jene verhängnisvolle Reise. Er hatte Mädchen ausgesucht, für die es etwas bedeutete. Die Sehnsucht danach hatten, den Harem für einige Tage zu verlassen. Deren Status dadurch stieg, dass er sie auswählte, zu denen zu gehören, die auf dieser Reise vielleicht eine Stunde mit dem Herrscher verbringen durften. Talawain hatte genau gewusst, dass Aaron keine von ihnen zu sich rufen würde. Er hatte erraten, nach wem sich das Herz des Herrschers verzehrte. Zumindest glaubte er das. Noch hatte er es nicht gewagt, Aaron darauf anzusprechen.

Er war hier, um den unsterblichen Aaron auszuspionieren, rief er sich in Erinnerung. Und eine weitere seiner Aufgaben bestand darin, Schaden anzurichten und Unfrieden zu stiften. Eigentlich sollte er mit dem Ausgang der Reise nach Isatami sehr zufrieden sein … Aber als er die jungen Mädchen aufgereiht im Palasthof gesehen hatte, hatte er sich schuldig gefühlt. Er hatte sie ausgewählt und in den Tod geführt. Siebzehn Mädchen voller Träume. Ihre Sehnsüchte waren Teil seines zynischen Kalküls gewesen – ganz so, wie es bei Aya gewesen war. Er hatte gewusst, dass ihre Träume sich nicht erfüllen würden. Doch dass es so kommen würde, hatte er nicht ahnen können!

Er war nicht schuldig! Er sollte sich nicht so fühlen. Sollte nicht so sehr seine innere Balance und seinen Abstand verloren haben. Er war dazu ausgebildet worden, so etwas abzutun. Er sollte das abstreifen können, indem er einige Stunden in seinem Garten verbrachte. Einige Äste stutzte oder hochband, um den Garten weiter zu vervollkommnen …

Aber das hatte er diesmal nicht getan. Stattdessen hatte er seinen Garten verwüstet. Ihn seiner schönsten Blüten beraubt. Das sollte mir eine Warnung sein, dachte er.

Der Garten war ein Spiegel seiner Seele. Innere Harmonie, eine der kostbarsten Blüten. Es war nicht angemessen, Rachegedanken wegen einiger toter Menschenkinder zu hegen. Wer waren sie schon? Die Brut der Devanthar! Der Erzfeinde.

Die siebzehn Blüten waren in der Ferne verschwunden. Fortgerissen vom Fluss des Schicksals, so wie die Mädchen. Auch er sollte einfach verschwinden. Er war zu lange an Aarons Hof. Er hatte den Abstand verloren.