Der Luwier drückte ihn weiter hinunter. Jeden Augenblick konnte sich sein langes Haar in den wirbelnden Speichen verfangen. So durfte es nicht zu Ende gehen! Volodi verlagerte sein Gewicht. Noch eine Handbreit bis zum Rad. Die Seitenwand des Wagens reichte nicht bis ganz zum Ende der Wagenplattform. Der Drusnier verdrehte die Augen und konnte die wirbelnden Speichen des Rades sehen. Überdeutlich nahm er den Geruch des Grases wahr, das unter den schweren Rädern zerquetscht wurde. Er roch den Schweiß des Luwiers. Ein angenehm herber Duft. Ganz klar sah er jede Schramme auf dem Schuppenpanzer des Kriegers. Die dünne weiße Narbe unter dem linken Auge, jedes einzelne Haar im Bart des Mannes. Volodi spürte die Nähe des Todes. Er wusste, dass es das Abschiedsgeschenk des Lebens war, die Welt ein letztes Mal so deutlich wahrzunehmen wie nie zuvor.
Das Holz knackte. Ja, er hörte es wirklich. Trotz des lärmenden Hufschlags. Sein langes Haar berührte das rasende Rad. Volodi versuchte sich aufzubäumen, doch sein Gegner war zu stark. Eisern hielt er ihn gepackt und drückte ihn tiefer. Volodi stellte sich vor, wie sein Haar in die Speichen geriet. Wie ihm ganze Strähnen ausgerissen wurden und sein Genick brach, wenn sein Kopf herumgerissen wurde. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er in die großen braunen Augen seines Gegners sah, dessen funkelnde Dolchspitze sich in sein Auge bohren würde, wenn sein langes Haar ihn nicht umbrachte. Der Luwier triumphierte nicht. Kein spöttisches Lächeln lag auf seinem Gesicht, und er wirkte auch nicht angespannt. Im Gegenteil, er schien ganz ruhig, ganz darauf bedacht, seine Blutarbeit zu Ende zu bringen.
Volodi kam kurz der absurde Gedanke, dass er sich mit dem Kerl gut verstehen würde, wenn sie auf derselben Seite kämpfen würden.
Der Streitwagen machte einen Satz über eine Bodenwelle hinweg und schlug unsanft auf. Das Holz krachte. Volodi bekam den linken Arm frei. Er stieß mit dem Ellenbogen nach dem Kinn des Angreifers. Der Stoß war nicht mit viel Kraft geführt, aber der Luwier wich ein wenig zurück. Mit der Linken packte Volodi das Handgelenk oberhalb des Dolches. Einen Augenblick lang tat er das, was der Luwier erwartete – er versuchte mit aller Kraft den Arm zurückzubiegen. Doch dann riss er ihn nach vorne. Vorbei an sich, vorbei an der splitternden Seitenwand und hin zu den wirbelnden Radspeichen.
Es gab einen mörderischen Ruck und ein klatschendes Geräusch, als schlage man mit der Faust in ein frisches Stück Fleisch. Der Luwier schrie auf. Volodi rammte ihm das Knie zwischen die Schenkel und stieß ihn zurück. Von der rechten Hand seines Angreifers war nur ein fingerloser, unförmiger Klumpen geblieben. Ein zweiter Stoß und der Krieger stürzte von der Plattform ins Gras.
Volodi richtete sich auf und blickte zum Himmel. Hoffentlich hatten seine Ahnen ihm zusehen können. Er war zufrieden mit sich und der Welt. Zufrieden, wie schon lange nicht mehr. Lächelnd nahm er die Zügel. Die Wagenpferde waren gut dressiert. Sie reagierten auf den leisesten Zug. Er brachte den lädierten Streitwagen auf ebeneres Gelände. Dann wickelte er sich einen der Lederzügel um seinen Arm und zog ihn straff, bis die Schnittwunden aufhörten zu bluten. Der Torturm war außer Sicht. Ein Stück voraus lagen die Leichen der Krieger von jenen Streitwagen, die als Erste durch das Tor gebraust waren. Dahinter hatte sich sein Heer versammelt. Ein langer Hang, voller Streitwagen. Banner und Rosshaarstandarten wehten im Abendwind. Sie alle warteten auf ihn, die untergehende Sonne im Rücken. Und er würde sie in die Festung des Feindes führen.
Morddrohung
Es war eine Frage des Glaubens. Und Gonvalon hatte sich entschieden, lieber Lyvianne zu glauben als seinen eigenen Sinnen, die ihm beharrlich vorgaukelten, seine Beine endeten unterhalb seiner Knie in zerfleischten Stümpfen. Auf zwei Krückstöcke gestützt, kämpfte er sich den Flur entlang. Niemand außer Lyvianne war in der Nähe. Sie hatte die anderen Meister der Weißen Halle darüber unterrichtet, was geschehen war, und diese waren so taktvoll, sich fernzuhalten. Auch keiner der Schüler kam in seine Nähe.
Mit verzweifelter Wut setzte er eines seiner gefühllosen Beine vor. Wieder und wieder und wieder … Es war, als schwebe er. Blickte er an sich hinab, sah er die Stümpfe. Sie berührten den Boden nicht, er fühlte keine Steinplatten unter seinen Füßen. Dennoch hatte er entschieden, dass all dies ein Trugbild war. Er wollte wieder laufen können … Wollte zu Nandalee. Und das nicht als Krüppel!
»Willst du nicht eine Pause machen und Atem schöpfen?«
Er wollte zornig antworten – aber er war zu kurzatmig. Lyvianne hatte recht.
Resignierend ließ er sich auf einer der gemauerten Bänke entlang der Wand nieder.
»Warum bist du so sicher, dass Nandalee noch lebt?«
Die Frage überraschte Gonvalon. Bislang hatte er angenommen, dass Lyvianne auf seiner Seite stand. »Das Band zwischen ihr und dem Vogel …«, begann er keuchend.
»… könnte ein Trugbild sein«, unterbrach sie ihn. »Du siehst, wie vollkommen dir Matha Naht vorgaukelt, dass du keine Beine mehr hast. Dich mit dieser roten Kraftlinie zu täuschen wäre gewiss viel einfacher.«
»Es gab die Linie schon, bevor ich zu diesem verdammten Holunder ging!«
»Und sie wurde immer blasser.« Lyviannes Stimme war weich, mitfühlend. »Könnte es nicht sein, dass sie verloschen ist in der Zeit, in der Matha Naht dich quälte?«
Er setzte zu einer Erwiderung an, doch kein Wort kam über seine Lippen. Konnte das stimmen? Er starrte hinab auf die polierten grauen Steinplatten des Flurs … und verlor den Boden unter den Füßen. Ein weiteres Mal.
»Warum sollte sie das tun? Welchen Nutzen bringt das Matha Naht?« Die Frage war ein Aufbäumen. Die Antwort ahnte er bereits.
»Sie tut es, weil es ihr Freude bereitet, dich zu verletzen. Auf jede nur denkbare Art. Sie hat erkannt, wie tief deine Liebe zu Nandalee ist. Sie wird sich an der Vorstellung ergötzen, wie unermesslich dein Schmerz sein muss, wenn du dich nach langer Suche getäuscht siehst und vor Nandalees Grab stehst.«
Gonvalon atmete tief ein. Er war ganz ruhig. »Ich werde Matha Naht töten.«
Lyvianne lachte. »Wie? Glaubst du, du gehst einfach hin und fällst sie? Ihr Hügel ist bedeckt mit den Gebeinen jener, die sich vor dir dieser Illusion hingegeben haben. Du kannst Matha Naht nicht töten. Sie wird dich manipulieren. So wie sie dir vorgaukelt, du hättest keine Beine mehr. Im günstigsten Fall wirst du unverrichteter Dinge wieder abziehen. Vielleicht aber wirst du deine Klinge auch gegen dich selbst richten …«
Gonvalon stand auf. Es war ein grässliches Gefühl, den Boden nicht unter den Füßen zu spüren. Sofort musste er um seine Balance kämpfen. Er biss die Zähne zusammen. Machte einen ersten Schritt, verlor das Gleichgewicht und musste sich taumelnd an der Wand abstützen.
Lyvianne sah zu, ohne ihm zu Hilfe zu eilen, und er war ihr dankbar dafür. Sie kannte ihn gut. Und auch er fühlte sich mit ihr erstaunlich vertraut. Fast hatte er das Gefühl, das alles schon einmal mir ihr erlebt zu haben. Mit ihr laufen gelernt zu haben. Was für ein absurder Gedanke!
Er stieß sich von der Wand ab und versuchte erneut ohne Krücken zu gehen. Willenskraft und Übung würden ihm zum Erfolg führen. So war es stets in seinem Leben gewesen. Matha Naht sollte ihn nicht unterschätzen. Er war Gonvalon, ein Drachenelf, und vielleicht der beste Schwertkämpfer Albenmarks. Und er war ihr Feind. Sie sollte sich vor ihm fürchten! Er würde ihr dazu verhelfen, dieses neue Gefühl tief auszukosten. Er würde zu ihr kommen und sie töten. Und bevor es so weit war, würde sie davon erfahren. Als Holunder konnte sie nicht fortlaufen.
Sein nächster Schritt war etwas sicherer. Rachegedanken waren nicht tugendhaft, aber sie halfen ungemein. Gonvalon blickte zu Lyvianne. Was wohl ihr Preis gewesen war? Und warum kannte sie Matha Naht?