Der Zwerg lächelte versonnen. Er mochte solche Feste. Am liebsten jedoch, wenn sie nicht in seinen Höhlenwänden abgehalten wurden. Er erinnerte sich dunkel an einige Zecher, die auf dem Wassertrog neben der Esse kauerten, ein paar der Briefe verteilt zu haben, in denen ihm versprochen wurde, ihn gegen ein wenig Gold zu den Fressplätzen von Drachen zu führen. Anfangs war er ein paar Mal darauf hereingefallen. Inzwischen aber erkannte er meist schon daran, wie die Briefe abgefasst waren, dass es sich um Lug und Trug handelte. Die meisten waren die Tinte nicht wert, mit der sie niedergeschrieben waren. Mit einem Seufzer sammelte er die Papier- und Birkenrindenfetzen ein, die neben dem Wassertrog lagen. Das war das Drama mit seinem Volk — bei einem Zechgelage verloren sie jedes Maß! Naserümpfend beugte sich Galar über den Trog. Zwischen zerknülltem Papier trieben die Kadaver ertrunkener Mäuse. Seiner Mäuse, die er benutzte, um die Giftigkeit unbekannter Substanzen zu testen. Gestern war irgendjemand auf die Idee gekommen, ein Wettschwimmen mit den Mäusen zu veranstalten. Sie hatten Wetten abgeschlossen … Er hatte mehr als nur seine Mäuse verloren. Gestern, so erinnerte er sich dunkel, hatte er mitgemacht und es lustig gefunden. Er musste verdammt betrunken gewesen sein!
Galar fluchte und wollte sich schon abwenden, als ihm ein Birkenrindenstreifen auffiel, der rot beschriftet war. Etwa ein Schuldschein, mit Blut geschrieben? Gestern konnte alles passiert sein …
Er überflog die Zeilen. Nur ein Drache, dachte er erleichtert. Ein … Er stutzte. Die Farbe des Drachen war ungewöhnlich. Galar las noch einmal. Und diesmal wurde auch kein Gold für nähere Auskünfte verlangt. In etwas plumpen Worten schilderte ein Prospektor die Sichtung eines Drachen, der einen festen Fressplatz hatte. Hoch in den Bergen, in einer Gegend, wo es weit und breit keine Zwergensiedlung gab. Dort zu jagen wäre eine Herausforderung. Allein das Geschütz dorthin zu bringen … Im Grunde war alles vorbereitet, um die Hornisse zu erledigen, wie sie spöttisch den großen gelbschwarzen Drachen nannten, den sie sich zum Ziel erkoren hatten. Aber die Beschreibung, die er in Händen hielt, weckte Galars Neugier. Sich einen Drachen mehr anzusehen konnte ja nicht schaden. Außerdem müsste er sich dann nicht weiter um die Werkstatt kümmern. Er würde seinen Gehilfen genaue Anweisungen geben, was zu tun war. Noch einmal überflog er die wenigen Zeilen. Der Drache schien sehr regelmäßig an seinen Fressplatz zu kommen. Mit Schrecken dachte er daran, wie viele Zwerge inzwischen von Hornbori eingeweiht worden waren — und wem sie alles einen Gefallen schuldeten. Das würde kein Jagdausflug werden, sondern ein regelrechter Feldzug. Der halbe Berg war in die Sache verwickelt. Es wäre gut, sich für ein paar Tage zu verdrücken und alles noch einmal gut zu durchdenken. Vielleicht könnten sie an den anderen Drachen ja noch ein wenig näher herankommen? Das wäre besser für den Schuss. Ja, er würde gehen und diesen Drachen etwas genauer unter die Lupe nehmen.
Galar entschied, Nyr mitzunehmen. Die Sache mit der kleinen Armbrust gestern Nacht war dem Geschützmeister nicht gut bekommen. Er hatte einiges an Prügel einstecken müssen. Auch Nyr war sicherlich in der Laune, den Berg für einige Zeit zu verlassen, bis die Ereignisse von gestern Abend für alle Beteiligten nur noch ein launiges Fest waren, an das man mit einem Schmunzeln zurückdachte.
Poesie und Lügen
Artax verneigte sich knapp vor Kanita, dem Statthalter Ischkuzas in der Goldenen Stadt. Der in die Jahre gekommene Steppenkrieger fiel auf die Knie, wie es das Protokoll gebot, wenn ein Unsterblicher seine Aufwartung beendete. Mit beiden Händen hob er das Eisenschwert empor, das Artax ihm zum Geschenk gemacht hatte. Den Kopf hielt er jedoch gesenkt.
»Mögen unsere Reiche auf ewig in Frieden verbunden sein, Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe, kühner Krieger und Schlachtenlenker.«
Artax lächelte über die freie Interpretation seiner Titel. Gut, dass Datames nicht anwesend war. Er hätte in diese Schmeichelei sicherlich wieder mehr hineingedeutet. Aber sein Hofmeister hatte entschieden darauf bestanden, in Aram zu bleiben, um der Verwaltung des Reiches nicht die Zügel schleifen zu lassen, wie er sich in unverhohlenem Tadel ausgedrückt hatte.
»Mögest du die Enkel deiner Enkel neben dir reiten sehen«, entgegnete Artax förmlich.
Als der Statthalter sich erhob, konnte er dessen Gelenke knacken hören. Bald würde Kanita abgezogen werden, daran konnte kein Zweifel bestehen. Artax’ Wünsche für die Gesundheit des betagten Kriegers waren durchaus eigennütziger Natur. Ein neuer Statthalter würde wahrscheinlich auch eine neue Palastwache mitbringen und am Wandernden Hof ihres Vaters wäre Shaya vollends unerreichbar für ihn.
Der Abschiedshöflichkeit war nun Genüge getan; Artax wandte sich ab, ließ den Blick über den hier versammelten Hofstaat schweifen und ging langsam auf das Tor zu. Sie waren verrückt, die Ischkuzaia. Charmant, aber verrückt. Ihre Audienzhalle war keine Halle, sondern ein weiter Hof, in dessen Mitte ein prächtiges Zelt stand. Gras wuchs hier und Pferde weideten hinter dem Zelt. Einige Krieger aus der Leibwache trugen Adler auf ihren dick mit Leder bewehrten Fäusten, als wollten sie bald zur Wolfsjagd ausreiten. Sie hatten ein Stück ihrer Steppe in den Palast geholt! Um ehrlich zu sein – ihm gefiel das.
Er richtete den Blick auf das rot lackierte Tor, hinter dem eine weite Treppe lag, deren einziger Sinn darin bestand, selbst den stolzesten Besucher des Statthalters in einen elend keuchenden Jammerlappen zu verwandeln. Der Palast der Ischkuzaia stand auf einer weit im Westen gelegenen Terrasse der Goldenen Stadt, dicht unter dem Rand zum Weltenmund. Wahrscheinlich konnte man von dem Hohen Turm, der sich am Ende des Hofes erhob, auf die fliegenden Helden im weiten Krater blicken. Die goldbeschlagenen Streben, die seitlich aus dem Turm ragten, verrieten, dass er zugleich auch Ankerplatz für die Wolkenschiffe des Statthalters war.
Artax dachte an die endlos lange Treppe, die zu Kanitas Palast führte. Um wie viel einfacher wäre es, sich mit einem Landungsboot aus einem ankernden Wolkenschiff abseilen zu lassen! Aber das war untersagt. Selbst Unsterblichen! Die Ischkuzaia schützten irgendwelche rituellen Gründe vor, die angeblich verlangten, dass jeder Besucher diesen Weg auf eigenen Füßen bewältigte. Ihr Statthalter wurde nur selten in seinem Zelt behelligt.
Am Tor zur Treppe stand der eigentliche Grund für seinen Besuch — Shaya, die siebenunddreißigste Tochter des Großkönigs von Ischkuza. Nächtelang hatte er sich den Kopf zermartert, wie er sie ansprechen sollte. Es durfte nicht so aussehen, als habe er Interesse an ihr. Ohne die Erlaubnis der Devanthar dürfte er nicht um die Tochter eines der Unsterblichen werben. Die Götter wollten nicht, dass zu enge Bande zwischen den sieben großen Herrschern entstanden. Sie fürchteten um das Gleichgewicht der Reiche. Also musste er überaus vorsichtig vorgehen, damit ein Treffen zwischen ihnen nicht von vornherein verhindert wurde.
Shaya war voll gerüstet wie bei ihrer ersten Begegnung auf dem Deck des Wolkenschiffes, das steuerlos am Himmel getrieben war. Bei der Erinnerung an all die Toten auf dem Schiff überlief ihn ein Schauer. Er verschloss sich den ungewollten Gedanken und betrachtete Shaya, wohl darauf bedacht, dass seine Blicke nicht zu einem verräterischen Starren wurden. Ob sie wohl ahnte, dass sie die Frau seiner Träume geworden war? Er lächelte. Nein, ganz gewiss tat sie das nicht. Wie hätte sie darauf kommen sollen?
Irgendwo im hinteren Bereich des Hofs erklang ein Gongschlag. Die Flügel des roten Tores schwangen auf. Doch Artax blieb dicht vor Shaya stehen. Die Kriegerin hatte ihren Helm unter den Arm geklemmt. Ihr schwarzes Haar war hochgesteckt. Die dunklen Augen waren mit Ruß umrandet und wirkten unnatürlich groß. Sie strahlten, doch sonst verriet nichts in ihrer Miene, ob das Wiedersehen ihr etwas bedeutete.