Wieder lauschte er. Es war still. So still, wie es in dieser riesigen Stadt werden konnte. Man hörte immer etwas – ein fernes Lachen, ein weinendes Kind, den Schrei einer verliebten Katze. Volodi straffte sich, hielt sich dicht an den Häusern zu seiner Linken und folgte der Gasse. Jeden Augenblick war er auf einen überraschenden Überfall gefasst, aber nichts geschah. Bald fand er einen Platz, in dessen Mitte ein bleicher, toter Baum stand. Er erkannte den Ort wieder. Er war nicht weit von dem Vogelmarkt entfernt, auf dem er Quetzalli zum ersten Mal begegnet war. Von hier aus musste er sich gen Süden halten, wenn er zum Palast des unsterblichen Aaron zurückkehren wollte.
Langsam wurden die Straßen belebter. Ein junges Mädchen in schneeweißem Kleid lächelte ihm lüstern zu und er senkte den Blick. Wieder hatte er Quetzalli vor Augen. Was würde mit ihr geschehen? Er sollte zurückkehren … Aber würde er es damit für sie nicht noch schlimmer machen? Welches Recht hatte er schon an ihr? Hätte er sie doch nur verstanden! Sie hätten zum Platz der tausend Zungen gehen sollen. Dort konnte man Sprachgelehrte aus allen Ländern finden. Sprachprobleme waren nichts Ungewöhnliches in der Goldenen Stadt. Sie waren der Alltag.
Der Duft von gebratenem Fleisch stieg ihm in die Nase. Ein Stück die Straße hinauf gab es einem Imbiss, wo über einer Schale voll glühender Kohlen alles Mögliche gebraten wurde. Meist schmeckten die kleinen Fleischspieße gut, die man an solchen Ständen bekommen konnte. Das Fleisch war mit einer Kruste aus Gewürzen überzogen. Solange man sich keine Gedanken darüber machte, was man aß, ging alles gut.
Volodi blickte die Straße zurück. Seinen Verfolger konnte er nirgends entdecken, und so entschied er sich für eine Mahlzeit. Mit leerem Bauch konnte man nicht klar denken. Wenn dieser Kerl Quetzallis Mann war, würde er sie nur in noch mehr Schwierigkeiten stürzen, wenn er zurückkehrte. Er sollte sie vergessen …
Mit drei Fleischspießen in Händen ging er weiter die Straße hinauf. Solange er auf belebten Straßen blieb, war er sicher. Hier würde gewiss niemand wagen, ihn anzugreifen.
Er knabberte an einem der Spieße. Er wollte Quetzalli wiedersehen. Sie liebte ihn, das hatte er gespürt. Er hätte bleiben und dem anderen den Schädel einschlagen sollen, statt fortzulaufen. Aber Quetzalli hatte ihm diese Entscheidung abgenommen, als sie seine Kleider aus dem Fenster warf.
Er hätte auch nackt kämpfen können, dachte er ärgerlich. Quetzalli hatte ihn einfach überrumpelt, und statt zu denken, war er geflohen. Vielleicht auch, weil er sich sofort ertappt und schuldig gefühlt hatte. Er wusste einfach gar nichts über sie und — Volodi verharrte. In dem Fleischspieß, von dem er aß, steckte plötzlich ein Holzsplitter. Etwa so lang wie ein Zahnstocher. Am Ende des Splitters hing etwas, das wie ein kleines Klümpchen zusammengeknüllte Wolle aussah. Er zog es aus dem Fleisch. Ein Blasrohrpfeil?
Volodi duckte sich und fluchte. Dieser feige Bastard! Er lief im Zickzack über die Straße und dann in eine Gasse hinein. Hier wäre es leichter, seinen Verfolger zu stellen. Ein Blasrohr! Was für eine feige Memme war das denn! Den Kerl würde er kriegen. Er kauerte sich unter eine Holztreppe und wartete. Er würde es mit den Fäusten erledigen.
Aber nichts geschah und niemand kam in die Gasse. Wartete der Mistkerl draußen? Da konnte er lange warten! Volodi nagte seinen letzten Fleischspieß ab. Er hatte immer noch Hunger. Ob Quetzalli wohl mitkommen würde, wenn er sie holte? Die meisten der Palastwachen des unsterblichen Aaron langweilten sich. Wenn er ihnen die Geschichte auf die richtige Art verkaufte, würde er bestimmt einige zu einem nächtlichen Ausflug überreden können. Er würde erzählen, dass sie gefangen gehalten wurde und …
Schritte! Volodi spannte sich. Es war der Kerl, der ihn verfolgt hatte. Eine zweite, schmächtigere Gestalt folgte ihm. Der Kleinere redete auf den gehörnten Ehemann ein.
Volodi wartete. Sie sollten ganz nah kommen. Im Schatten der Treppe konnten sie ihn nicht sehen. Ein wenig noch. Mit einem gellenden Schlachtruf sprang er aus seinem Versteck und rammte dem Mann vom Fenster seine Faust in den Magen. Der Kerl war völlig überrumpelt. Er knickte ein. Volodi packte ihn, zog ihn hoch und versetzte ihm einen Leberhaken. Aus den Augenwinkeln sah der Drusnier, wie der Kleinere ein Blasrohr an die Lippen hob, und zog den gehörnten Ehemann schützend vor sich. Als der Schütze zögerte, stieß er ihm dessen Kameraden entgegen. Beide prallten gegen die Hauswand. Noch bevor der Kleinere sich aufrappeln konnte, war Volodi über ihm. Er packte das Blasrohr und stieß es mit der Spitze auf den Boden. Mit der Linken drückte er den heimtückischen Schützen nieder. Der schrie und zappelte, schaffte es aber nicht, sich ihm zu entwinden. Er hatte ein tätowiertes Gesicht und schnitt nun verzweifelt Grimassen.
Mit spitzen Fingern hob Volodi den kleinen Pfeil auf, der aus dem Blasrohr geglitten war. Sein Gegner gab jeglichen Widerstand auf und glotzte ihn nur mit großen Augen an.
»Haben viel Spaß damit, Drecksack!« Mit diesen Worten drückte er ihm den Blasrohrpfeil in den Hals. Der Schütze lächelte. Er wirkte fast dankbar. Verrückter Kerl!
Volodi wandte sich ab und bückte sich über den anderen. Der Zapoter war von kräftiger Statur, sein leichter Bauchansatz kündete von einem guten Leben. Es gab keine Schwielen an seinen Händen. Ein Krieger oder einfacher Arbeiter war er also nicht. Die Tunika des Mannes war zerrissen und gab den Blick auf eine Brusttätowierung frei. Neugierig zog Volodi den Stoff weiter auseinander. Im Dunkel der Gasse konnte er das Bild nicht deutlich erkennen. Ein Aal mit Flügeln? So ein Zeichen hatte Volodi noch nie gesehen.
Der Zapoter sah ihn hasserfüllt an. Er murmelte etwas. Wahrscheinlich eine Verwünschung. »Du mich machen Liebesnacht kaputt. Das nicht nett! Ich auch nicht nett!« Er verpasste ihm einen Kinnhaken. Sein Verfolger sackte in sich zusammen. Volodi hob erneut die Faust. Er hatte Lust, dem Arschloch wieder und wieder ins Gesicht zu schlagen. Ihn zu Brei zu machen, aber dann hielt er inne. Er hatte kein Recht dazu. Immer noch wütend ließ er die Faust sinken und tastete den Bewusstlosen ab. Unter den Kleidern verborgen entdeckte er ein Messer in einer bunt bemalten Scheide mit einem Griff aus dunklem Holz und Gold. Wenn er die Waffe verscherbelte, würde sie sicherlich ein ansehnliches Sümmchen einbringen. So nahm er sie mit und schlich sich aus der Gasse. Trotz der Aussicht, etwas Geld aus der Sache zu schlagen, blieb seine Stimmung bedrückt. Warum hatte Quetzalli sich mit ihm eingelassen, wenn sie verheiratet war? Weil es ihr mit ihrem Mann nicht gefiel? Der Kerl war nicht gut darin sich zu prügeln. Vielleicht war er auch schlecht im Bett? Vielleicht würde Quetzalli ja mit ihm durchbrennen, wenn er sie danach fragte?
Volodi entschied, zum Platz der tausend Zungen zu gehen. Er musste einen Übersetzer finden. Mit ihm würde er zu Quetzalli zurückkehren. Ihr Ehemann würde sicherlich noch eine Stunde oder länger brauchen, bis er wieder auf den Beinen war. Er musste sich nur beeilen. Volodi orientierte sich an den hohen Türmen, an denen die Wolkenschiffe ankerten. Sie waren auch in der Nacht gut beleuchtet. Deutlich konnte er die riesigen, aufgeblähten Leiber der Kreaturen sehen, die die Schiffe durch den Himmel trugen. Niemals würde er sich diesen Dingern anvertrauen! Nie!
Es dauerte nicht lange, bis er den Platz der tausend Zungen erreichte. Er war von vier langen Säulenhallen eingefasst, die in unzählige Kammern unterteilt waren, welche sich alle zum Platz hin öffneten. Das honiggelbe Licht von Öllämpchen zeigte an, in welchen Kammern noch Übersetzer warteten. Es war spät geworden und viele Kammern waren leer.
Volodi fragte sich durch, bis er zu einem älteren, recht korpulenten Mann gelangte, der aus einer Holzschale Fischsuppe löffelte. Er hatte keinen Tisch und keinen einzigen Stuhl in der Nische, die ihm für seine Arbeit zugewiesen war. Der Übersetzer saß auf einem abgewetzten grauen Fell. Vielleicht von einem Wolf. Lachfalten nisteten um seine Augen und seine rote Nase ließ ahnen, dass er einem guten Trunk nicht abgeneigt war. Der Mann blickte zu Volodi auf. »Du hast einen weiten Weg gemacht, Bruder.«