»Und was machst du derweil?«
»Nichts, das dir Sorgen bereiten müsste.«
Der Alte musterte ihn. »Hast du Angst?«
Volodi tätschelte den Griff des Schwertes an seiner Hüfte. »Es gibt nicht viel, wovor ich Angst haben müsste. Nicht alles hat einen Hintersinn. Meine Blase drückt mich«, log er. »Das ist alles. « Ohne weitere Worte zwängte er sich durch die schmale Gasse, die neben der Nische des Übersetzers auf die Rückseite des Gebäudes führte. Ein infernalischer Gestank schlug ihm entgegen. Einige Nacktratten beäugten ihn misstrauisch. Von der Pracht des Platzes war hier nichts mehr zu erkennen. Der verfärbte Putz blätterte vom Mauerwerk ab, überall lag Müll herum. Eine armlange Natter wand sich durch den Abfall. Volodi zog den Dolch des gehörnten Ehemanns unter seinen Gewändern hervor. Es wäre klüger, die Waffe nicht mit zu Quetzalli zu nehmen. Falls sie sie durch Zufall entdeckte, würde das nur zu unangenehmen Fragen führen. Vielleicht würde sie sich sogar wieder für ihren Gatten erwärmen, wenn sie befürchtete, dass er ihm die Kehle durchgeschnitten hatte. Weiber waren in solchen Angelegenheiten völlig unberechenbar. Besser, er hätte den Dolch nicht bei sich!
Er drängte sich wieder in den schmalen Durchgang und blickte fasziniert über den weiten Platz. Alles hier war aus weißem Stein erbaut. Kein Schmutz war zu sehen. Eine andere Welt! So nah waren die Nacktratten und Nattern.
Der Alte strebte rufend der Sänfte entgegen und blickte nicht zurück. Hastig trat Volodi in die Nische des Übersetzers, ließ den Dolch zu Boden fallen und schob ihn unter das abgewetzte Wolfsfell. Hoffentlich hatte Mitja recht, dass sich hier keine Diebe hinwagten. Der Dolch war sicherlich ein kleines Vermögen wert. Volodi wandte sich um und eilte der Sänfte entgegen. Mitja hatte inzwischen Platz genommen. »Was hast du in meiner Kammer gemacht?«
»Mir den toten Wolf angesehen.«
»Wozu?«
»Ich fand, er hätte ein wenig mehr Würde verdient. Zu seiner Zeit war er sicher einmal ein listenreicher Jäger. Du hättest ihm seine Zähne lassen sollen.«
Der Übersetzer runzelte verständnislos die Stirn. »Spielst du damit auf mich an?«
»Sehe ich aus wie jemand, der spielt?« Volodi rief den Trägern zu, wohin sie die Sänfte bringen sollten, und lehnte sich zurück. Er dachte an Quetzalli. Er würde ihr Herz erobern, dachte er zuversichtlich.
Das Totenschiff
Artax spürte den leichten Ruck, mit dem die Sänfte abgestellt wurde. »Sollen wir die Kiste mit den Logbüchern in die Schwebende Halle bringen, Herr?« Es musste einer der Träger sein, der fragte. Das fröhliche, leise Summen des Lotsen, das ihn auf dem Weg durch die Stadt begleitet hatte, brach ab. »Lasst die Kiste nur stehen. Zunächst einmal brauche ich nur dieses Buch.«
Artax kam die Stimme des Lotsen weniger gelassen als sonst vor. Nabor war der Einzige, den er in seinen Plan eingeweiht hatte, und der Luftschiffer hatte verzweifelt versucht, ihm den Unsinn wieder auszureden. Aber Artax war fest entschlossen. Shaya war das Leuchtfeuer in der Finsternis der Niedergeschlagenheit, die ihn umfangen hatte, nachdem sein Besuch in Isatami auf so spektakuläre Weise fehlgeschlagen war. Er war nicht dazu geschaffen, ein Herrscher zu sein. Zu vieles schlug ihm fehl und zerstörte Leben. Vielleicht, so dachte er, war seine Sehnsucht nach der Prinzessin nur eine weitere Narretei. Liebe konnte man es wohl nicht nennen, denn schließlich waren sie einander kaum begegnet, und beim Besuch im Palast des Statthalters hatte Shaya ihn durch nichts in seinen Hoffnungen bestärkt. Höflich und distanziert war sie gewesen. Ganz so, wie es der Befehlshaberin der Palastwache zukam. Sie hatte ihn mit Heilkundigen und sogar einem Geisterrufer besucht, als er nach seinem Kampf mit Muwatta schwer verwundet darniedergelegen hatte. Und er hatte ihr nicht den Salut vergessen, mit dem sie und ihre Krieger ihn verabschiedet hatten, als er die Goldene Stadt verließ. Dies war einer der stolzesten Momente seines Lebens gewesen.
Doch all das war ein schwaches Fundament für den Palast seiner Liebe. Er seufzte. Nein, nicht Liebe. Es war eine Narretei. In seinen Träumen war Shaya ihm das Bindeglied zwischen seinem alten und seinem neuen Leben geworden. Die Almitra des unsterblichen Bauern Artax. Vielleicht würde sie nie so sein wie in seinen Träumen. Vielleicht würde sie auch neue Träume in ihm wecken. Er war bereit, dieses Abenteuer einzugehen.
Artax konnte hören, wie sich der alte Lotse erhob und aus der Sänfte stieg. »Dort drüben in der Schenke habe ich Kredit, Jungs. Ihr sollt auch nicht leben wie die Hunde! Trinkt einen auf mich. Ich werde die Zeche zahlen. Aber wehe, ihr lauft nicht mehr geradeaus, wenn ich nach Hause möchte.«
Die Sänftenträger bedankten sich ausgelassen. Dann hörte Artax ihre Schritte verklingen. Nabor klopfte auf den Deckel der Kiste. »Ihr könnte herauskommen, Erhabenster.« Der schwere Deckel hob sich, Artax streckte erleichtert seine Glieder und sah sich um. »Nächstes Mal müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen als diese Kiste.« Etwa hundert Schritt entfernt erhob sich auf hölzernen Stelzen ein hell erleuchtetes Kuppelzelt aus roter Seide. Sie befanden sich auf einer aus dem Fels geschlagenen Terrasse am Rand der Goldenen Stadt. Hunderte Frachtkisten und allerlei Ausrüstung für Wolkenschiffe lagerten hier. Etliche Steintürme säumten die Terrasse und die nahe gelegenen Hänge. Hier ankerten die Wolkenschiffe der Freihändler, die nicht in Diensten eines der sieben Großreiche standen. Hier lag auch das Totenschiff vor Anker, wie man jenes Wolkenschiff inzwischen nannte, das er einst herrenlos treibend gefunden hatte.
»Ich mache das nicht noch einmal mit, Erhabener«, knurrte Nabor mürrisch. »Ich …« Er fluchte. »Ihr habt doch alle Macht, die man sich nur wünschen kann. Wenn Ihr dieses Mädchen in Euren Harem holen lasst, werden sich die Ischkuzaia ja wohl nicht sträuben. Das ist doch eine Ehre, verdammt noch mal. Und das hier …« Er hob hilflos die Hände. »Dazu fehlen mir einfach die Worte. Flieht heimlich aus dem eigenen Palast, als sei er ein Dieb. Unfassbar! Das ist eine Dummheit ohnegleichen! Ihr wisst, diese Welt ist nicht für Liebe erschaffen!«
Statt auf die Klagen Nabors einzugehen, grinste Artax. »Ich bin in drei Stunden wieder zurück in der Kiste.«
»Ja, ja …« Nabor murmelte noch etwas Unverständliches, dann ging er zu dem beleuchteten Zelt, in dem sich die Lotsen versammelten und einander ihre kostbaren Karten zeigten. Ein anderes Mal würde er mitkommen, dachte Artax. Er war neugierig auf diese Welt. Und auch auf jene, deren Leben es war, auf Nangog hinabzublicken. Vielleicht gab es niemanden, der diese Neue Welt so tief verstand wie die Lotsen der Wolkenschiffe. Sie sollten ihr Wissen verbreiten, statt sich in einer geheimen Loge zusammenzutun.
Der Unsterbliche schlich zum Ankerturm des Totenschiffes. Am Fuß des Turms waren nirgendwo Wachen zu sehen und so begann er mit dem langen Aufstieg. Ob Shaya wirklich auf ihn warten würde? Ihm gingen die Worte des alten Lotsen durch den Kopf. Ihr wisst, diese Welt ist nicht für Liebe erschaffen!
Artax wusste, dass hier auf Nangog so gut wie nie Kinder gezeugt wurden. So selten, dass es dafür keine andere Erklärung geben konnte als die, dass sich die Welt selbst gegen sie wehrte. Sie wollte keine Menschen auf sich tragen. Gleichzeitig veränderte sie das Gemüt. Wer hierherkam, wurde friedlicher. Krieger mussten nach spätestens zwei oder drei Jahren ausgetauscht werden. Er war den Ankerturm vielleicht fünfzig Schritt weit hinaufgestiegen und verharrte kurz, um den Ausblick auf sich wirken zu lassen. Nichts auf ihrer Heimatwelt Daia kam dieser Stadt auch nur annähernd gleich. Tausende Lichter funkelten im Dunkel. In schäbigen Gassen und an den breiten Prachtalleen. Wie gefrorene Wolken schwebten die gewaltigen Himmelsschiffe an ihren Ankerplätzen, getragen von jenen rätselhaften Kreaturen, die untrennbar mit den Schiffen verbunden waren und friedlich durch Nangogs Himmel trieben. Die Wolkensammler griffen Menschen nicht an, und doch hatte die Kreatur, die über ihm schwebte, eine ganze Schiffsbesatzung ausgelöscht. Niemand hatte bisher eine Erklärung gefunden, warum das geschehen war, oder wie. Er musste verrückt sein, sich ausgerechnet hier mit Shaya zu treffen. Falls sie denn verstanden hatte, was er mit seinem Rätselspruch gemeint hatte. So müssen wir uns wohl fügen, dass die glückselig machende Erkenntnis so weit von uns entfernt ist wie die Monde um Mitternacht von der fernsten Wurzelspitze. Ihm selbst erschien der Satz nun gestelzt und unverständlich. Er hatte so sein müssen, damit die Umstehenden nicht errieten, welche geheime Botschaft er enthielt. Für ihn wäre die glückselig machende Erkenntnis die Antwort auf die Frage, ob er auf ihre Liebe hoffen durfte. Die Monde um Mitternacht war eine Angabe über die Zeit, wann er sie zu treffen hoffte. Nämlich um Mitternacht. Und die fernste Wurzelspitze gab in Verbindung mit dem Gespräch über das verfluchte Wolkenschiff den Ort an, an dem er auf sie warten würde. Die Lotsenkanzel unter dem Rumpf des Schiffes. Jener Ort, zu dem die fernsten Wurzelspitzen des Lebenden Baums hinabreichten, der auf dem Wolkenschiff wuchs und dessen Wurzelwerk das Holz durchzog, wie die Wurzeln anderer Bäume ins Erdreich drangen. Aber hatte sie das verstanden? Schließlich war sie nur eine Kriegerin aus einem Barbarenvolk!