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Wieder blickte Artax auf die Stadt. Jedes der sieben großen Reiche hatte hier versucht, sein Bestes zu geben. So vieles wäre möglich, wenn es nicht Männer wie Muwatta gäbe. Warum duldeten die Devanthar ihn? Welchen Zweck erfüllte er? Welcher unbekannte Zweck war ihm beschieden, dachte er verzweifelt. Es war müßig, die Gedanken von Göttern verstehen zu wollen!

Er lauschte auf das Klappern und Plätschern der riesigen Holzräder, die das Wasser dem Gipfel entgegenhoben. Dies war die Melodie der Goldenen Stadt. Das Geräusch, das niemals verstummte und sie von allen anderen Städten unterschied, die er je betreten hatte. Stunden schwieg er, was ein seltenes Glück war. Fast war er ihm dankbar dafür.

Jenseits der Kanäle flackerte ein grünes Licht auf. Einen Lidschlag lang nur. Ein Schaudern überlief Artax. War es einer jener Geister, die in dem dunklen Tal nahe seinem Heimatdorf wüteten? Er kniff die Augen zusammen, spähte in die Ferne und tastete unwillkürlich nach seinem Gürtel. Da war kein Schwert. Nicht einmal ein Dolch. Zu diesem Treffen hatte er nicht mit einer Waffe kommen wollen. Schon gar nicht mit dem Schwert – schon gar nicht mit seinem Schwert. Nur selten dachte er an das unheimliche grüne Licht, das um die Klinge gespielt hatte, als er den Anführer der Piraten tötete. Er hatte die Erinnerung tief in sich vergraben wie auch die Erinnerungen an das dunkle Tal. Andere hingegen trugen die Geschichte weiter. Gegen seinen Willen und doch war er machtlos, es zu unterbinden. Er hatte es nicht einmal versucht. Von Juba wusste er, dass jener Name, den Volodi ihm auf Kyrna gegeben hatte, längst in aller Munde war, obwohl man sich hütete, ihn in seiner Gegenwart auszusprechen. König Geisterschwert.

Ob der Name schon bis zu Shaya vorgedrungen war? So wollte er nicht vor sie treten. Nicht als der Unsterbliche, als der von den Göttern Erwählte, dessen Macht keine Grenzen kannte. Er wollte Artax sein. Der Bauer! Der, der nichts zu vergeben hatte, außer seinem Herzen. Der, bei dem man sich nichts erhoffen konnte, außer aufrichtiger Liebe.

Er erwartete eine spöttische Bemerkung, doch Aaron schwieg noch immer. Lag es vielleicht daran, wie er aussah? Alle Insignien seiner Macht hatte er im Palast zurückgelassen, trug lediglich eine einfache Tunika und ein Paar abgewetzter Sandalen, die er einem seiner Diener gestohlen hatte. Nichts von dem, was er am Leibe trug, war für den Unsterblichen erschaffen worden. Wenn er sich von allen Äußerlichkeiten seines Amtes trennte, wurde er dann auch seinen Quälgeist los? War er vielleicht an die Dinge gebunden, die einst Aaron gehört hatten? Er würde dem nachgehen, sobald er in den Palast zurückkehrte. Aber jetzt sollte seine neue Freiheit allein Shaya gehören. Wenn sie denn kam.

Sein Herz schlug schneller, als er zu dem mächtigen Wolkenschiff emporblickte. Wartete sie dort? Sie hatte ihm kein Zeichen gegeben, dass sie ein Treffen mit ihm wünschenswert fand. Sie hatte es auch nicht gekonnt! Nicht am Hof des Statthalters unter einem Dutzend neugieriger Augenpaare. Er sah zu der Kanzel des Lotsen, die wie ein großer schwarzer Edelstein aus dem Rumpf des Wolkenschiffes wuchs. Kein Licht war dort. Nichts wies darauf hin, dass sie gekommen war. Ein Seil hing in weitem Bogen von dort herab. Es war an einem der zahllosen Holzpfosten vertäut, die wie Stacheln seitlich aus dem Ankerturm wuchsen. Eines von gewiss hundert Seilen. Ob es oben an Deck Wachen gab? Artax wusste, dass dieses Wolkenschiff unter den Ischkuzaia als verflucht galt. Es würde schwer sein, Männer zu finden, die eine Nacht an Bord durchstehen würden. Selbst unter den tapfersten Kriegern.

Artax dachte an den weiten Saal voller Toter, den er dort vor mehr als zwei Jahren entdeckt hatte. Er schluckte. Das Wolkenschiff war wahrlich kein romantischer Ort für ein Stelldichein, aber nirgends sonst in der Goldenen Stadt durften sie beide auf ein paar ungestörte Stunden hoffen. Es brachte nichts, seine Zeit mit endlosem Grübeln zu verbringen! Entschlossen stieg er die breite Außentreppe des Ankerturms empor, bis er jene Leine erreichte, die zur Lotsenkanzel führte. Beklommen blickte er in die Tiefe. Weit unter ihm leuchtete das Zelt der Lotsen wie eine Laterne, die ein Riese zwischen den Ankertürmen abgestellt hatte.

Artax packte den rauen Hanf des Seils, streckte sich und ließ die Sicherheit der steinernen Stufen hinter sich. Er hakte seine Fersen über das Seil und zog sich Hand um Hand vorwärts. Bald begannen die Muskeln in seinen Armen zu brennen. Er hatte sich verschätzt, wie viel Kraft diese Kletterei kostete. Einmal mehr drehte er den Kopf, hin zur Lotsenkanzel. Sie war noch mehr als zehn Schritt entfernt — und er hing kopfüber im Nichts! Wenn jetzt einer der Lotsen das Zelt verließ und nach oben blickte … Artax presste die Lippen zusammen. Es brachte nichts, sich auszumalen, was alles passieren mochte. Er könnte auch einen Krampf bekommen und … Er lachte zynisch. Schwarzzusehen war ohne Zweifel eines seiner großen Talente. Entschlossen zog er sich weiter das Seil entlang. Hand über Hand. Er blickte nicht mehr nach unten. Nicht mehr zur Kanzel. Es gab nur noch ihn und das Seil und den brennenden Schmerz in seinen Armen. Weiter! Weiter … Sein Kopf stieß gegen die Scheibe der Kanzel. Er konnte spüren, wie das Glas zurückschwang. Jemand packte ihn unter den Armen und zog ihn in die Lotsenkanzel.

»Du kletterst wie einer der Baummänner.«

Artax hätte die Stimme unter Tausenden erkannt. Dankbar und ungläubig zugleich blickte er zu Shaya auf. Ihr Gesicht war kaum mehr als ein Schattenriss in der Dunkelheit. Er wollte etwas Geistreiches antworten … Den ganzen Abend über war er in Gedanken immer wieder diesen Augenblick durchgegangen, hatte sich schöne Worte zurechtgelegt. Doch alles, was er jetzt zustande brachte, war ein verlegenes Räuspern. Bei den Göttern!

»Ich sehe, du bist auch etwa so gesprächig wie ein Baummann.«

»Aber nicht so haarig.« Nein! War er denn von allen guten Geistern verlassen? Was redete er da nur!

»Dann besteht ja noch Hoffnung …« Sie lachte.

Hoffnung worauf, dachte er, und räusperte sich erneut. »Schön, dass du hier bist. Ich …« Was hatte sie nur an sich, dass er wie ein bartloser Jüngling stammelte? »Also … Ich meine … War es schwer für dich, hierherzukommen?«

»Nein. Ich musste nur sagen, wohin ich will, und konnte sicher sein, keine Begleiter zu haben. Ich habe vorgegeben, ich wolle hier oben die Geister der Toten zu mir rufen.«

»Das kannst du?« Es war zu dunkel, um in ihren Zügen zu lesen.

»Vielleicht.« Ein Hauch schalkhaften Spotts schwang in ihrer Stimme mit. »Manche Geister sind gesprächiger als du, unsterblicher Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe.«