»So bin ich nicht immer … Das heißt …« Er seufzte. »Ich …«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Ihre Berührung ließ ihn erschauern.
»Ich hatte befürchtet, einem selbstsicheren Unsterblichen zu begegnen, der mich großspurig dazu auffordert, mit ihm das Tier mit den zwei Rücken zu machen. Ich bin angenehm überrascht.«
»Oh … Wenn … Dann … Danke.« Ihm war schleierhaft, was man an seinem Gestammel angenehm finden konnte. »Das Tier mit den zwei Rücken?«
»Ein Philosoph deines Volkes hat diese Redewendung geprägt. Aber ich hörte schon, dass du dich lieber in waghalsige Abenteuer stürzt als in Stapel alter Schriften. Der Philosoph wollte damit zum Ausdruck bringen, wie Männer und Frauen miteinander verkehren, wenn sie Nachwuchs zeugen wollen. Ein recht treffendes Bild, fand ich immer.«
Artax spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, und war froh, dass Shaya ihn in der Dunkelheit nicht erröten sehen konnte. Er brauchte dringend einen Plan! Er hatte jegliche Kontrolle über die Situation verloren. »Wir sollten die Lotsenkanzel verlassen«, sagte er mit heiserer Stimme.
»Wohin willst du gehen? Hier sieht man uns genauso wenig wie im Schiff, solange wir kein Licht entzünden.«
»In die Kammer unter dem Baum …« Er sagte das nur, weil er das Wolkenschiff nicht kannte und ihm kein anderer Ort einfiel.
»Dort würdest du hingehen?« Zum ersten Mal schwang Unsicherheit in ihrer Stimme.
Eigentlich wollte er nicht dorthin gehen. Er wollte einfach bei ihr sein. Ihre Nähe genießen. Reden … Weiter hatte er nicht gedacht. Aber das konnte er ihr wohl kaum geradeheraus ins Gesicht sagen! Er wollte sie auch nicht anlügen. Und das würde er tun, wenn er ihr vorgaukelte, dass es ihm nichts ausmachte, in jenen weiten Saal zu gehen, den er voller Toter gesehen hatte. Am besten wäre es, er wechselte das Thema. »Die Geisterrufer … Können sie wirklich die Toten zurückrufen, um mit ihnen zu sprechen?«
»Zweifelst du daran?« Sie klang beleidigt.
Er zögerte zu antworten, doch schon sein Schweigen war beredt genug.
»Ausgerechnet du, König Geisterschwert? Das hätte ich nicht erwartet.«
»Ich habe noch nie einen Geist gesehen …«
Shaya deutete mit weit ausholender Geste hinab zu den Kanälen. »Du kennst die Grünen Geister Nangogs, die in diese Stadt eindringen und uns aus ihrer Welt vertreiben wollen. Es heißt, du hättest einen von ihnen mit Zaubermacht in dein Schwert gezwungen. Wie kannst du da glauben, dass von meinen Ahnen nichts bleibt, wenn ihre Seele sie verlässt! Manche fühlen sich ihrem Volk so sehr verbunden, dass sie bleiben, um den Lebenden zu helfen, wenn sie es vermögen. Mit ihnen sprechen die Geisterrufer. Auch die Priester der Geisterhaine in Drus vermögen das.«
Artax sah sich beklommen um. Die Vorstellung, zu jeder Zeit von den Geistern seiner Ahnen umgeben zu sein, behagte ihm nicht.
Shaya lachte leise, als habe sie ihn durchschaut. »Die Geister sind schwach in dieser Welt. Sie fliehen Nangog. Sie wissen, dass wir alle nicht hierhergehören.«
»Warum ist dein Volk hier, wenn ihr der Überzeugung seid, nicht hierherzugehören?«
Sie schnaubte. »Wir würden unser Gesicht verlieren, wenn wir nicht hier wären. Wir sind nicht feige! Aber unsere Geisterrufer sind von großer Sorge erfüllt. Sie sagen, die Geister spüren ein großes Unheil nahen. Ein Unheil, das alle Welten erschüttern und selbst die Götter Demut lehren wird.«
Das war nun endgültig blanker Unsinn, dachte Artax. »Dieser Gedanke ist in sich nicht schlüssig. Wie könnten die Götter, die die Welten erschaffen haben und alles, was darauf lebt, ein sich anbahnendes Unheil übersehen, das sie und ihre Schöpfung gefährdet? Das ist unwahrscheinlich. Das muss auch dir einleuchten.«
»Deine Annahme setzt voraus, dass die Götter vollkommen sind. Was, wenn das ein Irrtum ist? Was, wenn auch ihre Taten von Eigennutz und falschem Stolz beherrscht werden? Warst du noch nie von den Göttern enttäuscht? Hast du dich noch nie ihrer Willkür ausgeliefert gefühlt?«
Artax dachte an den Brand der Schilfbündelhallen und wie verzweifelt er damals gewünscht hatte, der Löwenhäuptige würde helfen. Ja, er kannte den Zweifel an den Göttern! Aber was würde bleiben, wenn er den Glauben an den letztlich guten Willen des Löwenhäuptigen verlor? Und wie lange würde er überleben, wenn der Devanthar es bemerkte? Er musste sich gegen dieses giftige Gedankengut, diesen Irrglauben sperren! »Welche Gefahr sehen die Geisterrufer hier in Nangog?«, wechselte er abrupt das Thema.
»Ist ein Wolkenschiff voller Toter keine deutliche Warnung? Keiner weiß, wie sie gestorben sind. Doch alle kennen ihr Schicksal. Und wer immer mit einem Wolkenschiff eine neue Reise beginnt, tut dies mit dem Herzen voller Furcht. Und die Grünen Geister … Heute Nachmittag erst entdeckten die Wachen an den Flusstürmen einen besessenen Schiffer. In seinem Leib wäre fast einer der Geister durch den magischen Wall gedrungen. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas geschah. Die Geisterrufer sagen, dass die Grünen Geister versuchen, sich in unsere Seelen festzukrallen. Aber es ist, als wolle man sich an polierten Stein klammern. Sie finden selten Halt. Und selbst wenn es gelingt, gleiten sie nach wenigen Augenblicken wieder aus unseren Seelen. Doch was wird geschehen, wenn sie eines Tages einen finden, der anders ist? Einen, in dem sie verweilen können? Unsere Geisterrufer haben große Angst vor ihnen. Sie haben Angst, dass ihre Gabe vielleicht das sein könnte, was die Grünen Geister suchen. Ein Halt, der es ihnen erlaubt zu bleiben. Unerkannt. Deshalb verlassen sie die Goldene Stadt nicht und verweilen selten länger als für einige Stunden hier auf Nangog.«
Und wenn es schon geschehen ist, dachte Artax. Was würden die Grünen Geister tun? Was war ihr Ziel? Konnten sie vielleicht sogar von einem Unsterblichen Besitz ergreifen? Nein, ganz gewiss nicht. Nicht von einem Unsterblichen! Das würden die Devanthar niemals zulassen. Aber gab es andere? Er fand die Vorstellung zutiefst beunruhigend und entschied sich, lieber daran zu glauben, dass die Devanthar keinen einzigen Menschen den Geistern überlassen würden. Nicht weil sie so edelmütig waren, sondern lediglich, weil sie nicht dulden würden, dass irgendein Geist etwas stahl, das ihnen gehörte.
Shaya sah ihn unverwandt an. Las sie an seinem Antlitz ab, was er dachte? »Und, Prinzessin … Hast du einen Plan, wie wir die Welt retten können?« Die Frage war ihm einfach so herausgeplatzt. Es war eine Almitra-Frage. Eine Frage für lange Nächte am Kamin bei Kohlsuppe und Brunnenwasser. Auch Shaya hatte er diese Frage im Geiste schon gestellt. Jetzt, so wurde Artax mit einem Mal bewusst, würde sich erweisen, wie viel die Shaya seiner Träume mit der wirklichen Shaya gemein hatte. Was würde er darum geben, jetzt ihr Gesicht zu sehen und nicht nur einen Schattenriss!
»Hast du schon einmal im Himmel getanzt?«
Was sollte das jetzt? Jedes Mal, wenn er glaubte, sie ein wenig zu verstehen, brachte sie ihn wieder aus der Fassung. Die Barbarenprinzessin, die eine Kriegerin war und die Texte von Philosophen las, die an Geister glaubte, aber an ihren Göttern zweifelte. Immerhin, sie hatte ihn nicht ausgelacht. Das war gut, dachte er. Das war sehr gut. Das war fast schon ein Anfang.
»Hast du?«
»Ich … Nein.«
Sie nahm seine Hand und zog ihn zu der Sprossenleiter, die hinauf ins Wolkenschiff führte. Sie hatte einen festen Griff. Ihre Handfläche war ein wenig feucht. Sie war sich also auch nicht so sicher, wie sie wirkte.
»Wohin gehen wir?«
»Ein Philosoph aus meinem Volk hat einmal gesagt: Erst wenn du keinen Weg mehr siehst, der dich zu deinen Zielen führen wird, bist du völlig frei.«
Das war Artax zu hoch.« Ich verstehe nicht …«
»Das ist doch leicht«, sagte sie. »Du bist frei, weil du erst dann jeden Weg gehen kannst.«
Sie lachte. Es klang nicht verletzend oder herablassend. Ganz gleich, was die Nacht noch bringen würde – allein für dieses Lachen hatte sich alles gelohnt. Für ein Lachen von ihr würde er den Zorn des Löwenhäuptigen herausfordern.