Der Perlvorhang am Eingang klickte leise. Volodi blickte auf. Ein dürrer, groß gewachsener Kerl torkelte herein. Er legte dem Mädchen am Eingang die Arme um den Hals und die beiden verschwanden flüsternd hinter einem der Wandschirme.
Kolja war seinem Blick gefolgt. »Erwartest du jemanden?«
»Ich nehme kein Geld für die Gefallen, die ich dir tue«, entgegnete Volodi. »Allerdings heißt das nicht …«
»Ah, jetzt kommt die Rechnung. Da du aussiehst, als wäre ein Streitwagen über dich hinweggeprescht, nehme ich an, wir tauschen nun Gefallen gegen Gefallen. Wen soll ich umbringen?«
Volodi erzählte von dem kleinen Mann, der ihm folgte. Den Rest der Geschichte verschwieg er.
»Soll er schnell oder langsam sterben?«
»Am meisten nützt er mir, wenn du ihn mir lebend bringst. Und am besten in einem Zustand, dass er noch auf seinen eigenen Beinen stehen kann.«
Kolja lächelte verschlagen. »Das heißt, wir können ihm die Arme brechen?«
»Bring ihn mir in einem Stück. Und nimm dich in acht – der Kleine ist wieselflink. Er ist gut mit Messern und benutzt außerdem ein Blasrohr mit vergifteten Pfeilen.«
Der Faustkämpfer stieß einen grunzenden Laut aus. »Sieh mich an. Wieselflink war noch nie genug gegen groß und gemein.«
»Es ist besser, wenn ihr nicht durch die Vordertüre …«
Kolja erhob sich. »Ich mache so etwas nicht zum ersten Mal. Stell dich einfach unauffällig an ein Fenster und sieh zu.« Mit diesen Worten verschwand der Hüne.
Drachen und Elfen
Gonvalon strich über die warmen, weichen Nüstern seines Pegasus und Nachtschwinge schnaubte leise. Er hatte den schwarzen Hengst lange nicht mehr gesehen. Sie standen auf einer einsamen Wiese, ein Stück von der Weißen Halle entfernt. Es war ein frostiger Morgen. Feiner Schneegriesel trieb mit dem Wind.
»Sieh mich nicht so an.« Gonvalon hatte das Gefühl, der Pegasus wusste, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
»Er hat mehr Verstand als du«, sagte Lyvianne beißend.
»Dann ist es wohl gut, dass er bei mir ist, um auf mich aufzupassen. «
»Spricht da noch der Gonvalon, den ich einst kannte? Der beherrschte Schwertmeister? Ewiger Rivale von Nodon? Immer gut für eine Affäre mit einer Schülerin? Selten humorvoll, doch meist stilsicher?«
»Dieser Gonvalon ist auf dem Hügel Matha Nahts geblieben.« Er sagte das ohne Bitternis. Es war eine Tatsache, mit der er sich in den letzten Wochen abzufinden gelernt hatte.
»Aber diese Reise – wohin soll sie führen? Du weißt nicht einmal, ob Nandalee noch lebt.«
»Ich bin zu Matha Naht gegangen, damit sie verhindert, dass die magische Verbindung zwischen Nandalee und Piep verblasst. Sie hat ihren Teil unseres Paktes erfüllt. Wenn ich meine Suche nicht fortsetze, dann war mein Opfer vergebens.«
»Man macht einen Fehler nicht ungeschehen, indem man den nächsten begeht«, entgegnete Lyvianne. In ihrer Stimme klang ein Hauch von Resignation.
»Ich würde wieder zu diesem bösartigen alten Holunderweib gehen, wenn ich dafür hoffen dürfte, Nandalee zu finden.«
»Ich weiß.«
Die Art, wie sie es sagte, berührte Gonvalon. Er hatte das absurde Gefühl, dass sie stolz auf ihn war, obwohl es dafür objektiv gesehen keinen Grund gab. Er war gerade dabei, eine Dummheit, die ihn für sein Leben gezeichnet hatte, durch eine noch größere Dummheit zu übertrumpfen. Er konnte nicht einmal wirklich reiten. Mit einem Anflug von Selbstmitleid blickte er zum Geschirr, das auf den Rücken von Nachtschwinge geschnallt war. Üblicherweise gab es nur einen flachen Sattel, in den Lederschlaufen eingelassen waren, damit der Reiter stehen konnte und seine Beine nicht den Flügelschlag des Pegasus behinderten, doch sein neuer Sattel war ganz anders. Zwei Holzstangen ragten über der Kuppe des Hengstes auf. Dünne Lederriemen waren dazwischen gespannt, sodass die ganze Konstruktion an eine lange, schmale Stuhllehne erinnerte. Und genau das war ihr Zweck. Er musste stehen während des Fluges. Oder kauern. Beides ging nicht, wenn man seinen Beinen nicht mehr vertraute. Sie nicht mehr fühlte! Sosehr er sich bemüht hatte, er war ein Krüppel. Er bewegte sich unsicher. Er strauchelte leicht, selbst wenn er Krücken benutzte. Ihm war klar, dass es nur eine Illusion war und dass seine Beine nicht unterhalb der Knie zerfleischt waren. Sie waren vollkommen gesund. Aber seine Wahrnehmung war es nicht mehr! Er konnte es einfach nicht beherrschen, sosehr es auch versuchte. Also musste er sich während des Fluges zurücklehnen können. Er brauchte Halt. Eine Krücke, selbst im Sattel!
»Du nimmst wenig Proviant mit«, bemerkte Lyvianne.
»Die Reise wird nicht sehr lange dauern.«
»Du weißt also, wohin dich diese rote Kraftlinie führen wird?«
Er nickte. »Sagen wir es so – ich habe einen Verdacht.«
Lyvianne hob fragend eine Braue, doch er ignorierte es. Sosehr sie sich auch um ihn bemüht hatte, in dieser Angelegenheit konnte er ihr nicht trauen. Er vertraute niemandem in der Weißen Halle.
Für Gonvalon lag es auf der Hand, dass Nandalee sich – wenn sie noch lebte – bei einer der Himmelsschlangen befinden musste. Wer durch das Fenster trat, gelangte zu einem der großen Drachen. So war es immer gewesen. Das musste zwar nicht stimmen, wenn sich das Fenster durch einen unglücklichen Zufall geöffnet hatte – aber daran wollte Gonvalon nicht glauben. Je länger er darüber nachgedacht hatte, desto mehr war er zu der Überzeugung gelangt, dass eine der Himmelsschlangen Nandalee zu sich gerufen hatte. Nur die Regenbogenschlangen hatten die Macht, dieses Fenster zu öffnen. Es war naiv zu glauben, dass Nandalee es allein getan hatte! Und Gonvalon hatte auch eine ganz bestimmte Himmelsschlange in Verdacht.
»Du willst mir nicht sagen, wohin du reisen wirst?«
»Ich danke dir dafür, wie du mir in den vergangenen Wochen geholfen hast.« Lyvianne hatte unzählige Stunden mit ihm verbracht. Aber er traute ihr nicht. Er wusste nicht einmal sicher, welcher der Himmelsschlangen sie sich verschrieben hatte, argwöhnte allerdings, dass auch sie dem Goldenen diente, so wie er es tat. Wenn ein Schüler der Weißen Halle seine letzte Prüfung bestanden hatte, dann wurde er von einer der Himmelsschlangen erwählt. Beide zogen sich dann zurück, um einander tief kennenzulernen. Waren sie im Geiste eins miteinander, stach die Himmelsschlange ein Bild in den Körper des Elfen. Das Ritual konnte viele Tage dauern und war nicht vom Willen der beiden gelenkt. Und jedes Bild sah anders aus. Es spiegelte ihrer beider Charakter und die Art des Bundes, den sie eingingen. Manche Bilder waren von einfacher Art und erschlossen sich auf den ersten Blick, so wie das, das er auf seinem Rücken trug. Andere wiederum erstreckten sich über Arme und Beine, und es war unmöglich sie mit einem einzigen Blick zu erfassen. War das Bild aus Blut, Schmerz und gemeinsamer Hingabe vollendet, war der Bund zwischen Elf und Drache besiegelt. Es war ein Bund, der nur durch den Tod gelöst werden konnte.
Lange schon hatte der Goldene Gonvalon nicht mehr gerufen. Seit Nandalee verschwunden war. Ob sein Meister billigen würde, was er getan hatte? Falls Lyvianne dem Goldenen diente – hatte sie ihn dann verraten? Welches Bild wohl in ihre Haut gestochen war? Er würde es nie erfahren. Der Bund mit den Himmelsschlangen war etwas, worüber man nicht sprach. Nicht einmal mit anderen Drachenelfen. Denn es gab Ränkespiele zwischen den Himmelsschlangen, und manchmal wurden die Elfen darin verstrickt. Allein deshalb war es nicht klug, preiszugeben, auf wessen Seite man stand. Es war auch möglich, dass er sich irrte und Lyvianne sich genau jener Himmelsschlange verschrieben hatte, zu der er nun reisen würde. Auch er wäre ein angemessener Meister für sie. Machtvoll, düster und undurchsichtig.
Lyvianne lächelte zynisch. Es war nicht schwer zu erraten, warum er über sein Reiseziel schwieg. »Du willst vor eine der Himmelsschlangen treten und kannst dich kaum auf den eigenen Beinen halten?«