»Es ist nicht so, wie du sagst …«
»Dann erklär es mir, Volodi.«
»Liebe kann man nicht erklären! Was weißt du schon davon!«
»Ich habe eine Tochter, die wurde nicht einfach aus der Erde geboren. Glaube mir, ich weiß um die Liebe und um den Schmerz von Verlust. Allerdings muss ich eingestehen, dass ich nicht weiß, wie es ist, sich in eine Menschen mordende Schlangenpriesterin zu verlieben.« Der Alte versuchte erneut sich hochzustemmen. Diesmal half Volodi ihm. Mitja machte ein paar schwerfällige Schritte, dann stützte er sich auf das Fenstersims und blickte über den Hof hinweg zur Gasse, wo Kolja mit seinen Männern wartete. Volodi sah, wie es im Gesicht des Alten arbeitete. Mitja war zutiefst aufgewühlt.
»Sie werden wiederkommen«, sagte der Übersetzer. »Das hat mir der Priester versprochen. Sie werden uns beobachten und sich den Dolch zurückholen. Vielleicht wissen sie jetzt schon, dass ich eine Tochter habe. Eine blonde Tochter.« Er seufzte. »Ich will deine Eisenschwerter nicht, die ich gestern Nacht eingefordert habe. Ich will, dass du meine Tochter in Sicherheit bringst. Und dass du nicht diesen Kerl da unten schickst, um sie zu holen. Der Priester hat mir erzählt, dass sie den Göttern manchmal auch Gefangene opfern. Ein schlechtes Opfer sei immer noch besser als gar kein Opfer. Er hat mir genau beschrieben, was sie mit ihnen machen. Wie sie die Brust öffnen, nachdem sie ihnen ein Rauschmittel gegeben haben, das die Schmerzen betäubt, sodass die Opfer mit ansehen, wie ihnen das schlagende Herz aus dem Leib gerissen wird. Dann drücken sie es den Sterbenden in die Hand, auf dass sie es der Gefiederten Schlange selbst zum Geschenk darbieten. Ihr Blut wird in goldenen Schalen aufgefangen, um den Leib der Schlange zu erneuern. Und man schert ihnen den Kopf kahl, um die goldenen Haare später auf die Glut ihrer getrockneten Knochen zu streuen und ihren Rauch den Göttern zu senden, damit das Licht der Sonne niemals verlöschen möge. Die Schädel aber legt man in ein Regal und man sperrt die Seelen ihrer Opfer darin ein, denn ihre immerwährende Angst ist ein Labsaal für die gefiederte Herrin.«
Volodi schnaubte angewidert. »Das sind doch alles nur Geschichten. «
»Ganz gleich, was davon stimmt, Volodi, du bist im Krieg mit diesem Priester.« Mitja sah ihn zweifelnd an. »Du siehst aus wie ein Held aus einer unserer Geschichten. Einer, von dem die Bäume in den Geisterhainen noch nach Jahrhunderten flüstern werden. « Er deutete nach unten auf den Hof. »Und zugleich bist du der Anführer von denen da unten. Ich habe von Kolja schon gehört. Er hat sich sehr schnell einen Namen gemacht in dieser Stadt. Sag mir, dass meine Tochter weder unter dem Opfermesser noch in einem von Koljas Häusern landen wird. Hörst du, du musst mir das versprechen! Du musst versprechen, dass du einer von den Guten bist.« Mitjas Atem ging zusehends schwerer und er schwankte leicht.
»Würdest du dem Anführer von denen da unten ein solches Versprechen denn glauben?«
Mitja seufzte. »Habe ich eine Wahl? Versprich mir, ein Held zu sein! Bei den Geistern deiner Ahnen!«
»Ich fürchte, dass für die Zapoter der Priester und auch Quetzalli Helden sind, weil sie den Göttern gut und hingebungsvoll dienen. Wir sind in ihren Augen bestenfalls Diebe. Helden sind immer die, die am Ende einer Geschichte übrig bleiben, Mitja. Und die entscheiden, was man erzählt und was man besser verschweigt.«
»Mich interessiert allein, dass du der Held meiner Tochter wirst. Rette sie und mich alten, fußkranken Übersetzer. Sorge dafür, dass wir es sind, die am Ende der Geschichte übrig bleiben.«
»Ja«, sagte der Drusnier feierlich. »Ich werde dich beschützen. Und bei den Göttern, ich werde ein verdammter Held sein.«
Ein Feldzug für die Liebe
Der Statthalter blickte zu dem wunderbaren weißen Hengst, der ein Stück vom Zelt entfernt angepflockt stand. Es war unübersehbar, wie sehr er das Pferd begehrte. Ganz so, wie Artax es sich erhofft hatte.
»Vielleicht gibt es keinen zweiten Hengst wie diesen auf ganz Nangog«, sagte Kanita ehrfurchtsvoll.
»Und es gibt wohl kaum einen zweiten Mann auf Nangog, der die Schönheit eines Pferdes so zu würdigen weiß wie du, ehrenwerter Kanita. Es wäre mir eine Freude, wenn du den Hengst als Geschenk annimmst.«
»Wahrhaft die Gabe eines Unsterblichen!« Der Statthalter strich sich gedankenverloren über den dünnen, eisgrauen Kinnbart. Eine einzige Strähne aus Haaren, fein wie Seidenfäden, die ihm bis auf die Brust hinabreichten. »Und Ihr wünscht also, gegen die Plünderer des Rebellen Tarkon Eisenzunge vorzugehen. Bisher haben sie noch kein Wolkenschiff meines Volkes überfallen. Wir treiben nur wenig Handel im Norden.«
»Ist es klug zu warten, bis man den Dieb in seinem Hof stehen sieht, ehrenwerter Kanita?«
Statt zu antworten, blickte der Statthalter wieder zu dem Hengst.
»Ich werde zwei kleine Frachtschiffe ausrüsten lassen. Händler. Sie sollen harmlos wirken.« Artax bemühte sich um ein verschwörerisches Lächeln. »Aber wenn die Piraten uns finden, werden sie in Zukunft kein Problem mehr sein.«
»Mir ist immer noch nicht ganz klar, warum Ihr selbst dieses Unternehmen anführen wollt, Unsterblicher Aaron.«
Sogar die Wilden wissen besser, was die Pflichten eines Unsterblichen sind als du. Aber mach nur weiter. Wir heißen deine Pläne gut. Die Sorte Spaß, um die es dir geht, haben wir allzu lange vermissen müssen.
Artax wurde sich bewusst, dass er den Statthalter ungebührlich anstarrte, so sehr war er darum bemüht, dem Geschwafel in seinem Kopf Einhalt zu gebieten. Artax hüstelte und blickte nun seinerseits zu dem prächtigen Schimmel. »Bei uns in Aram gibt es eine Redewendung, die lautet: Wenn du willst, dass etwas gut gemacht wird, dann mach es selbst.«
Kanita lächelte. »Spielt Ihr darauf an, dass im Norden sehr viel Land liegt, das dem Königreich Luwien zugesprochen wurde? Wollt Ihr vielleicht selbst in Augenschein nehmen, wo ihre Eisenminen liegen?«
»Du weißt, dass alle sieben Unsterblichen schon vor vielen Jahren einen Vertrag gebilligt haben, der die Freiheit der Himmel festschreibt. Es ist also ohne Belang, über wessen Land wir fliegen. Wenn wir aber die Himmelspiraten besiegen, werden wir eine noble Tat vollbracht haben, die uns Ansehen in allen sieben Reichen bringen wird.«
Nicht Ansehen, sondern Argwohn wird es dir einbringen. Kein einziger Unsterblicher glaubt an edelmütige Taten. Wer das Wissen vieler Leben in sich trägt, gibt sich nur noch selten Illusionen hin.
Der Statthalter hob eine Braue und bedachte ihn mit einem skeptischen Lächeln. »Ich würde eher sagen, es bringt Euch Ansehen bei den Handelshäusern auf Nangog. Ich bin schon zu lange hier, um mich der Illusion hinzugeben, dass die Unsterblichen an mehr interessiert sind als an den Schätzen dieser Welt.«
Aaron jubilierte. Habe ich es nicht gesagt?
»Also müsste ihnen doch daran gelegen sein, dass man die Köpfe jener, die diese Schätze rauben, auf Speere steckt, nicht wahr? Und wäre eine solche Tat nicht ein dringender Anlass, höchstselbst an den Wandernden Hof zu reisen, um dem Unsterblichen Madyas von den Ereignissen zu berichten?« Artax sah die Sehnsucht in den Augen des Statthalters. Er wusste, wie sehr sich der alte Fürst wünschte, die weiten Steppen Ischkuzas wiederzusehen.
»Und es gibt noch etwas, das zu bedenken ist«, fuhr der Unsterbliche fort. »Die Himmelspiraten haben irgendwo einen Stützpunkt. Einen Ort, um den sich immer mehr Legenden ranken. Du weißt, wie viele Männer nötig sind, um ein Wolkenschiff mit allem Notwendigen zu versorgen, und wie es scheint, besitzen sie schon jetzt mindestens drei Himmelsschiffe. An ihrem Ankerplatz wird bald eine regelrechte Stadt entstehen. Eine freie Stadt, die keinem der sieben Königreiche angehört. Sie wird zum Traum aller Unzufriedenen werden. Und wie es mit phantastischen Träumen so ist, wird sich die Kunde von dieser Stadt schneller als ein Steppenfeuer ausbreiten. Nangog ist zu groß. Zu wenige Menschen leben hier, und diese Welt verändert sie. Wenn sich hier ein rebellischer Geist ausbreitet, wird es uns schwerfallen, ihn mitsamt der Wurzeln wieder auszureißen.«