Etwa zehn Schritt vor dem Durchgang durch das Tor blieb er stehen. Volodi blickte kurz über die Schulter. Die Männer hatten sich aufgeteilt. Trotz der Anspannung standen sie still. Kolja hatte nur Krieger ausgesucht, die besonders eindrucksvoll aussahen. Hochgewachsene Männer mit breiten Schultern und harten Gesichtern. Söldner! Jeder einzelne von ihnen. Männer, die entschieden hatten, davon zu leben, das Blut anderer zu vergießen.
Mit großer Geste legte Volodi den Dolch nieder. »Ich gebe euch zurück, was ich im Kampf erbeutet habe. Ihr habt gestern ein Leben für ein Leben genommen. Wir werden diesen Tod nicht rächen. Damit erkläre ich unsere Fehde für beendet!«
Wieder blickte Volodi zum Himmel, dann trat er vom Dolch zurück, ging rückwärts und ließ dabei das Tor nicht aus den Augen.
Wie aus dem Nichts erschien ein zierlicher Mann in einem weiten Federmantel unter dem Torbogen. Sein Kragen war aufgerichtet, sodass ein Rad aus schillernd buntem Gefieder hinter seinem Kopf aufragte. Ein Tuch aus weißem Stoff war um seine Hüften geschlungen. Breite Armreife, besetzt mit Türkisen, umfingen seine Handgelenke. Dunkle Tätowierungen bedeckten seine Brust. Volodi hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen.
Der Drusnier blieb stehen und beobachtete, wie der Priester vor dem Dolch in die Hocke ging. Stumm zog der Zapoter die steinerne Klinge aus der weiten Holzscheide und prüfte sie sorgsam.
»Du glaubst, du kannst dir einfach nehmen, was dir nicht gehört? «
Volodi war überrascht. Der Priester sprach Drusnisch, zwar mit starkem Akzent, aber doch zu verstehen.
»Du hast gestohlen und getötet. Und nun glaubst du, dass alles vorbei ist? Um den Preis von ein paar Worten? Bei Sonnenaufgang werden wir eure Herzen der gefiederten Schlange zum Geschenk machen. Dann endet diese Fehde!« Der Priester streckte in dramatischer Geste seine Arme aus. »Schatten, erhebt euch! Beendet die Leben der Hochmütigen, die glauben, uns herausfordern zu können! Tötet sie alle!«
Was Volodi eben noch wie Rauch erschienen war, schwoll nun an, wurde körperlich. Gestalten wuchsen aus den Schatten – Kreaturen, wie der Drusnier sie noch nie zuvor gesehen hatte. Tief geduckt schlichen sie wie Katzen und gingen doch nicht auf allen vieren. Sie bewegten sich fließend, stürmten jedoch nicht geradlinig vor, sondern tänzelten nach rechts und links und kamen dabei langsam näher. Schwarze Felle bedeckten die lebenden Schatten. Volodi sah fingerlange Fänge im Dunkel blitzen. Reißzähne in weit aufgerissenen Mäulern!
»Bildet einen Kreis!«, rief Kolja. »Niemand soll sich Gedanken machen, was in seinem Rücken geschieht. Los, Jungs! Schnell!«
Volodi sah, wie auch rings um den weiten Platz die Schatten zum Leben erwachten. Es mussten weit über hundert Jaguarmänner sein, die auf sie gewartet hatten. Und sie hatten keinen dieser verdammten Bastarde zuvor gesehen. Es war, als hätten die Schatten sie ausgespuckt. Und nun fluteten sie wie eine Woge aus lebendig gewordener Finsternis von allen Seiten auf den Platz. Sie trugen keine Schwerter oder Dolche. Ihre Arme endeten in langen, schwarzen Krallen. Manche der schwarzen Krieger fauchten, als seien sie leibhaftige Wildkatzen. Sie trugen Helme, die an Jaguarköpfe erinnerten. Auch diese waren schwarz wie die Nacht. Zwischen weit aufgerissenen Kiefern starrten geschwärzte Gesichter. Was für eine Brut, dachte Volodi. Zugleich war er sich sicher, dass diese Männer nicht für eine offene Feldschlacht taugten. Sie waren Meuchler, die überraschend aus dem Hinterhalt sprangen. Hier, auf dem offenen Platz, würden seine Söldner einen guten Stand gegen diese Bastarde haben!
»Haltet die Fackeln hoch!«, befahl der Drusnier mit ruhiger Stimme.
»Was für einen verdammten Nutzen soll das haben?«, zischte Kolja. »Was wir brauchen …« Ein lautes Klirren brachte ihn zum Schweigen.
Der Zapoter stand jetzt knapp zwanzig Schritt entfernt. Er war langsam in Richtung des großen Tors zurückgewichen. Nun aber stand er still und starrte auf die rotbraunen Scherben eines zerschellten Topfes, der etwa in der Mitte zwischen ihm und Volodi auf den weißen Steinplatten zerschellt war.
Flüssigkeit war gegen Volodis Beine gespritzt. Golden schimmerndes Lampenöl floss durch die Fugen zwischen den Steinplatten. Der Priester sah ihn nun geradewegs an. Hatte der Kerl begriffen, was vorging?
Ringsherum zerschellten weitere Töpfe auf dem Platz. Gepresstes Stöhnen verriet, dass auch einige der Jaguarmänner getroffen worden waren, doch keiner von ihnen schrie auf. Noch immer führten sie ihren seltsamen Tanz auf – wichen vor und zurück, hielten sich seitlich, folgten in ihren Bewegungen keinem nachvollziehbaren Muster und kamen doch langsam näher.
Volodi hatte keinen Zweifel, dass ein einziger Wink des Priesters sie wie eine schwarze Flut gegen den Kreis aus Schwertern und Fackeln anbranden lassen würde.
Durchdringender Ölgeruch hing nun in der Luft, Pfützen aus Öl flossen ineinander und noch immer stürzten Töpfe aus dem Himmel über ihnen.
Volodi blickte nicht auf. Er wusste, was er sehen würde. Ein Wolkenschiff, vielleicht hundert Schritt über dem Platz. Ein Kauffahrer ohne Banner, durch das man ihn einem der sieben Königreiche hätte zuordnen können. Ein schmutziges, stinkendes Schiff. Das Tauwerk dunkel vom Alter, die Segel vielfach geflickt. Dutzende solcher Schiffe lagen an den Ankertürmen der Goldenen Stadt vertäut. Die Arbeitspferde der Lüfte. Ihr Anblick war so vertraut in der Goldenen Stadt, dass keiner ihnen besondere Beachtung schenkte, wenn diese Schiffe über den Himmel glitten.
Eine ganze Reihe Töpfe zerschellte nahe dem großen Tor. Eine Ölpfütze sammelte sich um die Füße des Priesters.
»Ruf deine Jaguare zurück und ich schenke dir und deinen Männern das Leben.«
Der Priester erwiderte seinen Blick mit kalter, beherrschter Wut. »Ihr lasst die Fackeln nicht fallen. Denn dann wäret auch ihr des Todes.« Die zischenden Jaguarmänner waren jetzt bis auf fünf Schritt an den Kreis der Krieger heran. »Siehst du ihre Krallen? Sie werden euch zerreißen, noch bevor die Flammen sie töten.«
Volodi hob die Rechte und winkte. Kaum einen Herzschlag später schnellten Taue vom Himmel hinab. »Nehmt die Seile, Männer. Wickelt sie euch um die Arme. Und ich warne euch – wer seine verdammte Fackel fallen lässt, den lassen unsere Jungs da oben fallen. Wir wollen hier kein Massaker!«
»Ihr habt gehört, Kameraden!«, rief Kolja mit einer Stimme, die weit über den Platz hallte. »Wir ziehen uns zurück, nach oben!« Er lachte. »Los!«
Eine Geste des Priesters ließ die Jaguarmänner innehalten. »Du glaubst, es endet damit?«
»Es liegt in deiner Hand. Ich bin ein Söldner. Ich kämpfe nicht aus Leidenschaft – ich kämpfe, weil ich klar vor mir sehe, was ich gewinnen kann. In diesem Fall aber sehe ich für keine von beiden Seiten einen Gewinn. Ich zweifele nicht daran, dass es deine Männer schaffen können, noch weitere Schränke mit unerfreulichem Inhalt auf irgendwelche Straßen zu stellen. Und ich weiß, wir werden mit Feuer und Schwert über dich und deine Leute kommen, wenn dies geschieht. Aber was ist der Gewinn, den uns diese Kämpfe bringen?« Aus den Augenwinkeln sah er, wie die ersten seiner Männer hochgezogen wurden.
»Du hast meinen Gott beleidigt, als du den Dolch gestohlen hast.«
»Und nun ehre ich deinen Gott und schenke ihm das Leben eines bedeutenden Priesters und vieler seiner Krieger.« Volodi griff nach einem der Taue. Mit einer leichten Drehung wickelte er es um seinen Unterarm, blickte flüchtig über seine Schulter und sah, dass er der letzte Söldner war, der noch mit den Füßen auf dem Boden stand.
Der Priester winkte seine Jaguarmänner zurück. Wütendes Zischen erklang.
»Hätte Quetzalli mich zum Opferstein gebracht?« Diese Frage ging Volodi einfach nicht mehr aus dem Kopf, seit Mitja ihm offenbart hatte, welche Rolle Priesterinnen wie sie spielten.