Der Dunkle war versucht, ein Duell zwischen Gonvalon und Nodon zuzulassen. Es wäre gewiss kurzweilig, den beiden Schwertmeistern im Zweikampf zuzusehen. Aber etwas stimmte nicht mit Gonvalon. Die Art, wie er sich bewegte.
In Gedanken sandte der Drache seinen Wachen den Befehl zurückzuweichen. Nodon gehorchte ihm als Letzter. Nur widerwillig schob der rot gewandete Elf sein Schwert in die Scheide. Eines Tages würden die beiden wohl endgültig auf verfeindeten Seiten stehen, dachte der Dunkle. Er wusste um eine Zukunft, in der Elf gegen Elf stehen würde. Eine Zukunft, in der jede der Himmelsschlangen Loyalität einfordern würde. Und Gonvalon hatte sich dem Goldenen verschrieben. Aber vielleicht, so dachte er, würde es ja gelingen zu verhindern, dass dieser dunkle Ast am Baum der Zukunft jemals austrieb.
Wer hat Euch dies angetan?, fragte er Gonvalon in Gedanken. Deutlich spürte er, wie aufgewühlt der Schwertmeister war. Wie viel es ihm bedeutete, Nandalee wiedergefunden zu haben. Das Gefühlsleben Gonvalons weckte sein Interesse, und er studierte es noch etwas länger. Würde er, wenn er Nandalees Gedanken lesen könnte, ähnliche Gefühle bei ihr finden? Äußerlich jedoch blieb der Schwertmeister kühl und gelassen. Ja, er erschien in seiner Steifheit fast schon abweisend. Er war ein wahrer Meister darin, seine Gefühle zu verbergen.
»Meine Beine waren der Preis, den ich bezahlen musste, um hierherzugelangen«, gab Gonvalon zur Antwort. Es ärgerte den Dunklen, dass sich der Elf erdreistete, ihm mit gesprochenem Wort zu antworten. Es war offensichtlich, dass Gonvalon wollte, dass Nandalee Zeugin dieses Gesprächs war.
Der Drache betrachtete den Zauber, der die Beine des Elfen umfing. Ein perfides Meisterstück! Auf fremdartige Weise gewoben, ohne Zweifel kunstvoll und zugleich von erschreckender Boshaftigkeit. Nandalees Blick riss ihn aus seinen Betrachtungen. Sie war zornig. Auf ihn! Das irritierte ihn zutiefst. Glaubte sie etwa, er habe Gonvalon das angetan? Was würde er darum geben, jetzt ihre Gedanken lesen zu können! Ihr so klar und unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass er mit diesem Unheil nichts zu schaffen hatte, wie es nur möglich war, wenn man sich in Gedanken einander öffnete.
»Wer hat dich verstümmelt?« In Drachengestalt ging ihm die Sprache der Elfen nur schwer von der Zunge. Die Worte waren undeutlich, verzerrt von Zischlauten. Ärger stieg in ihm auf. Wäre Nandalee nicht anwesend, würde er sich von diesem Elfen nicht aufzwingen lassen, auf diese Weise miteinander zu kommunizieren. Doch vor ihr wollte er nicht als ein selbstherrlicher Tyrann erscheinen – und auch diese Erkenntnis verwunderte ihn. War er ihr Rechenschaft schuldig? Nein. Aber ihm war daran gelegen, ihr zu gefallen. Der Gedanke überwältigte ihn. So durfte es nicht weitergehen. Er musste sich von ihr befreien!
Nandalee blickte Gonvalon erschrocken an. Augenscheinlich hatte sie das Ausmaß der Veränderung an ihrem Geliebten bislang noch nicht erfasst.
Als Gonvalon ihren Blick auf sich spürte, gab er seinen Widerstand auf. Er erzählte von Matha Naht, und als er endete, war der Dunkle mehr als überrascht. Er wusste, dass die beseelten Bäume machtvolle Geschöpfe waren. Einmal hatte er einen ganzen Herbst lang mit einer jungen Eiche geplaudert, die sich Atta Aikhjarto nannte. Ein angenehmes Gespräch. Der Baum war überraschend geistreich und humorvoll gewesen. Zuletzt hatte er ihm eine Eichel zum Geschenk gemacht. Die beseelten Bäume gehörten zu den frühen Schöpfungen der Alben. Sie waren nur um weniges jünger als die Drachen und hatten ein tief greifendes Weltverständnis. Dass einer dieser Bäume bösartig sein könnte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Ein Baum, der die Macht der Blutmagie entdeckt hatte … Erstaunlich. Aber auch Gonvalons Verhalten verwunderte ihn. Hier fand er Parallelen zu dem, was Nandalee ihm in seiner Höhle erzählt hatte. Gonvalon hatte diesen Verlust auf sich genommen und sich dem Baum ausgeliefert, um Nandalee wiederzusehen. War das Liebe? Nein, berichtigte der Dunkle sich, Nandalees Liebe war anders gewesen. Sie hatte nichts für sich gewollt. Gonvalon aber hatte sich verstümmeln lassen, weil er sie hatte wiedersehen wollen. Noch einmal studierte er die Gedanken des Elfen, Freude, Scham, Erleichterung, Furcht, Zorn und der Wunsch, bei ihr zu liegen und sich zu paaren. Nein, beschloss er. Mit der Liebe würde er sich später weiterbeschäftigen. Stattdessen studierte er das magische Muster des Zaubers. Er war mit der Aura des Elfen verbunden. So kunstvoll, dass man den Zauber nicht brechen konnte, ohne dass Gonvalons magische Aura Schaden nahm.
»Weshalb bist du hierhergekommen, Gonvalon? Du weißt, dass es den Elfen verboten ist, dieses Tal zu betreten, ohne dass ich sie eingeladen habe. Selbst den Drachenelfen!«
»Ich bin gekommen, um Nandalee zurück in die Weiße Halle zu holen. Ich bin ihr Meister. Es ist meine Pflicht, mich um meine Schülerin zu sorgen.« Der Elf stockte. Selbst ihm musste klar sein, wie durchsichtig diese Behauptung war. »Und ich bin hier, weil ich sie liebe und nicht ohne sie sein kann.«
»Ich schätze Aufrichtigkeit.« Er wusste seit Stunden, dass Gonvalon kommen würde. Noch nie hatte sich ein Elf dem Jadegarten auch nur nähern können, ohne dass die Gazala ihn rechtzeitig vorwarnten. Seine Gedanken schweiften zu der Prophezeiung ab, dass er eines Tages durch einen Elf getötet würde. Alles deutete daraufhin, dass es Nandalee sein würde. Er könnte sie töten – und Gonvalon dazu. Es wäre ein Leichtes. Aber er wollte Nandalee für sich gewinnen – sie so sehr an sich binden, dass ein solcher Verrat undenkbar wäre. Deshalb hatte er Gonvalon gewähren lassen. Nandalee sollte das Gefühl haben, tief in seiner Schuld zu stehen.
»Ihr wusstet um das Verbot, hierherzukommen, und habt Euch darüber hinweggesetzt, Gonvalon. Das ist kein geringes Vergehen.«
Er verneigte sich und rang dabei um sein Gleichgewicht. »Ich hoffe auf deine Gnade.«
Der Dunkle richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Es zeigte den Elfen, wie klein und zerbrechlich sie waren, und verfehlte seine Wirkung nie.
Nandalee trat vor und kniete demütig nieder. »Ich bitte für ihn, Erstgeschlüpfter. Bitte lass ihn ziehen. Er kam nicht, um dich zu erzürnen. Nun, da er gesehen hat, dass es mir gut geht, wird er gewiss in die Weiße Halle zurückkehren. Bitte verzeih ihm.« Nie zuvor hatte er die rebellische Elfe so unterwürfig gesehen. Auch das war also Liebe.
Ich erwarte von Euch, dass Ihr mir einen Dienst erweist, fuhr sein Geist in Gonvalons Gedanken. Ich werde nicht darum feilschen. – Es gibt nur ein Ja oder Nein. Und der Goldene wird niemals erfahren, was Ihr für mich getan habt. Weder er noch sonst jemand.
Der Schwertmeister nickte kaum merklich.
»Ihr werdet zum Sonnenuntergang zu mir in die Pyramide kommen!«, sagte der Dunkle laut.
Als die Gazala ihm Gonvalons baldige Ankunft prophezeit hatten, hatte er entschieden, dass es an der Zeit war, seine ersten Späher nach Nangog zu schicken. Keinen Spitzel aus der Blauen Halle – sie hatten sich den Drachen nicht eng genug verschworen. Jeder seiner Brüder konnte einen von ihnen schicken. Jeder konnte sie befragen. Geheimnisse waren bei ihnen nicht aufgehoben. Seit er begonnen hatte, über seinen Plan nachzudenken, hatte er gewusst, dass er Drachenelfen schicken musste. Gonvalon wäre eine gute Wahl! Der Schwertmeister war erfahren und hatte in vielen Missionen für den Goldenen gestritten. So viel wusste er, auch wenn die Einzelheiten über Gonvalons Taten ein Geheimnis blieben. Es war ihm eine Freude, den Pakt, den der Schwertmeister mit seinem Bruder eingegangen war, zu unterhöhlen. Dass Gonvalon für Nandalee alles tun würde, hatte er bereits unter Beweis gestellt – und er würde sich dieses Wissen zunutze machen. Bevor der Elf gehen konnte, würde er ihm einen weiteren Schwur abverlangen – etwas, das Gonvalon noch tiefer in seiner Schuld stehen lassen würde. Künftig würde der Schwertmeister ihm von den Geheimnissen des Goldenen berichten.