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Nach wenigen Augenblicken erschien die Elfe. Lyvianne trug die Schale auf beiden Händen. Ganz in Weiß, gekleidet in das Gewand einer Meisterin der Weißen Halle, ihr Haar streng zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, wirkte sie unnahbar und selbstbewusst. Mit einer vollendeten Verbeugung setzte sie die Schale in der Mitte der Halle ab und zog sich wieder zurück.

Geht hin und schaut in das Wasser der Schale. Sie zeigt Bilder aus der Zukunft. Überzeugt euch! Ihr werdet sehen, was geschehen wird, wenn wir nicht mit aller Entschiedenheit handeln. Und bedenkt bei allem, was ihr seht, dass unser Bruder Nachtatem über etliche Gazala verfügt, die ihm prophezeien. Er muss um all das wissen, das euch nun offenbart wird. Und erneut stellt sich die Frage: Warum teilt er dieses Wissen nicht mit uns?

Der erste, der in die Silberschale blickte, war der Nachtblaue. ER konnte sehen, wie SEIN Bruder zunehmend verstörter wurde. Dann folgte der Himmlische und auch in seinem schuppigen Antlitz spiegelte sich bald blanker Schrecken.

ER ließ ihnen viel Zeit. ER kannte die Silberschale und ihre Macht gut und wusste, dass sie stets nur die dunklen Aspekte der Zukunft zeigte. Sie würde IHM helfen, den letzten Widerstand zu brechen.

Während der Stunden, in denen SEINE Brüder die Bilder des Schreckens schauten, wandelte ER unter ihnen und sprach mit jedem Einzelnen über das, was sie in dem Wasser der Schale sahen. Über die Drachen, die von Elfen und Zwergen gejagt wurden und kaum mehr als wilde Tiere zu sein schienen ohne magische Macht – ja sogar ohne Verstand! Nie sahen sie sich selbst. Es waren nur die niederen Drachenrassen, die im spiegelnden Wasser erschienen. Oft hingegen sah man eine Königin, die aus dem Volk der Elfen stammte und mit kaltem Herzen regierte. Ein anderes Mal wappneten sich Menschen ganz in schimmernden Stahl und hielten unter dem Banner eines toten Baumes ein totes Land besetzt. Asche und Rauch zogen im Wind über Albenmark und das Land selbst hatte seine Magie verloren.

All dies kann abgewendet werden, sagte ER schließlich mit fester Stimme. Die Zukunft ist nicht festgeschrieben! Wir können sie verändern. Was ihr gesehen habt, wird sich ereignen, wenn wir weiterhin unentschlossen sind. Was die Silberschale zeigt, wird unsere Zukunft sein, wenn wir darauf warten, dass die Alben handeln. Längst haben die Devanthar die alten Verträge gebrochen. Ihre Sklaven, die Menschenkinder, unterwerfen Nangog. Und ihr habt gesehen, dass es dieser Welt schon jetzt so ergeht, wie es einst Albenmark ergehen wird. Die Menschen wühlen sich in die Erde. Sie vernichten Wälder. Legen die Kreaturen dieser Welt in Fesseln und hängen fliegende Schiffe an sie! Wie ihre Herren, die Devanthar, kennen sie keinen Respekt vor fremder Schöpfung. Sie machen alles ihrem Willen untertan – und betrachten es als eine Tugend! Und nun kommt schon einer der Devanthar hierher und tötet Alben. Was aber noch viel ungeheuerlicher ist – unsere Schöpfer widersetzen sich alldem nicht! Sie haben uns und unsere Welt aufgegeben! Ihre Kinder! Dies ist ein Verrat, der mich noch unendlich viel mehr entsetzt als der Verrat der Devanthar. Wir wurden erschaffen, um den Alben als Statthalter in Albenmark zu dienen. Doch wie sollen wir dienen, wenn sie uns nicht länger den Weg weisen? Unsere Aufgabe war der Schutz Albenmarks. Lasst uns nicht länger auf Befehle warten, die nicht kommen werden. Lasst uns wahre Herrscher werden! Bestimmen wir unsere Geschicke und den Weg Albenmarks selbst!

Was ist mit dem Erstgeschlüpften?, warf der Himmlische ein.

Für einen Augenblick war ER kurz davor, seine Beherrschung zu verlieren. ER wollte in feierlicher Stimmung einen Bund der Himmelsschlangen schmieden. Die Zeit zu reden war vorüber. Nun mussten endlich Taten folgen! Siehst du ihn hier?, entgegnete ER scharf. Hast du ihn in den letzten Monden gesehen? ER deutete auf die Silberschale. Alles, was ihr heute gesehen habt, muss er längst durch die Prophezeiungen der Gazala erfahren haben. Warum hat er uns daran nicht teilhaben lassen? Wenn er kommt, bin ich der Erste, der ihn begrüßt. Doch sieh der Wahrheit ins Auge, Bruder – der Erstgeschlüpfte hat uns schon längst verlassen.

Er war immer schon mehr den Alben zugetan als uns!, zischte der Flammende.

So ist es, Bruder! Gibt es noch einen unter uns, der Zweifel hat? ER war angespannt. ER blickte zum Roten und zum Himmlischen. Bei diesen beiden rechnete er am ehesten mit Widerspruch, doch sie schwiegen.

Dann lasst uns einen Pakt schließen, dass wir alle Albenmark dienen wollen mit all unserer Macht, und dass wir die Devanthar bekämpfen wollen, um das Übel von unserer Welt abzuwenden. Ihr habt gesehen, wie es Albenmark ergehen wird, wenn die Feinde obsiegen. Es wird eine Welt ohne Magie sein! Und ohne Drachen.

ER blickte noch einmal in die Runde, dann sagte er feierlich: Ich schwöre, Albenmark zu schützen, Unheil von ihm abzuwenden und seinen Nutzen zu mehren, koste es auch mein eigenes Leben!

Der Nachtblaue war der erste, der den feierlichen Eid wiederholte. Dann folgten die anderen. Der Himmlische legte als letzter den Schwur ab.

Das Schicksal hat uns als Brüder vereint, doch heute haben wir uns über das Schicksal erhoben und sind aus freiem Willen einen Bund eingegangen, der uns für immer aneinanderkettet. Jeder von uns trägt eine andere Farbe. Jeder hat ein anderes Temperament. Besiegeln wir unseren Pakt damit, dass wir etwas teilen, in dem wir alle gleich sind. ER sprach ein Wort der Macht und über ihren Häuptern erschienen die sieben Steine, die er aus den ermordeten Alben erschaffen hatte.

Diese Steine sind so, wie unsere Welt sein wird, wenn unsere Feinde siegen. Gänzlich ohne Magie. Ein Gedanke von IHM ließ einen der Steine zu IHM hinabschweben. Nie will ich vergessen, welches Schicksal unserer Welt droht. Wie ein steinerner Gedanke soll unser Schwur für mich sein. Unverrückbar in mir. Für alle Zeit.

Mit diesen Worten öffnete ER seine Stirn, ergab sich dem Schmerz, als SEIN Knochen zurückwich, und legte den Stein in SEINE Stirnhöhle, wo bereits die Essenz der Mammutkuh zwischen wucherndem Knochengewebe verborgen war.

SEINE Brüder reagierten sehr unterschiedlich. Einige waren erschrocken, der Nachtblaue fasziniert, der Frühlingsbringer wandte sich voller Ekel ab. Doch zuletzt gewann ER sie alle. Und keiner von ihnen ahnte, wie tief ER sie in seine Intrige hineingezogen hatte. Dass sie nun die Essenz eines Alben in sich trugen. Eines gefallenen Weltenschöpfers.

ER lächelte. Es war getan. Der große Pakt war geschlossen. Von nun an würde die Welt eine andere sein.

Drache und Holunder

Gonvalon hatte nicht darum gebeten, dass der Dunkle ihm helfen sollte. Er hatte sich nicht dem Erstgeschlüpften, sondern dem Goldenen verschrieben – und nicht einmal ihn hätte er um Hilfe gebeten. Er hatte mit Matha Naht einen Pakt geschlossen. Sie hatte ihm gegeben, worum er sie gebeten hatte, auch wenn der Preis, den er zu zahlen gehabt hatte, höher ausgefallen war als erwartet, war ihm die Tatsache, Nandalee wieder in den Armen halten zu können, alle Qualen mehr als wert. Sie lebte! Und nicht nur das – er hatte sie gefunden. Mithilfe ihres Vogels und mithilfe der Liebe, die sie für ihn in ihrem Herzen trug. Und, ja – auch mithilfe dieses verfluchten Baumes. Dennoch konnte er sich einer gewissen Genugtuung nicht erwehren, als er hinter dem Dunklen über den Drachenpfad auf jenen einsamen Hügel trat, auf dem der Holunder stand. Es war sein Wunsch gewesen, ohne Nandalee hierherzukommen. Sie sollte den Ort, an dem er so sehr gelitten hatte, nicht sehen. Sollte nicht in Versuchung geraten, etwas Unbedachtes zu tun. Er kannte sie gut. Sie wäre auf Matha Naht losgegangen. Aber dazu waren sie nicht hier. Der Holunder sollte den Fluch von ihm nehmen. Ganz gewiss würde Matha Naht sich dem Wunsch des Erstgeschlüpften nicht widersetzen! Erwartungsvoll blickte Gonvalon zu dem dunklen Baum.