Der Ruf eines Nachtvogels hallte von den Felsen wider. Nandalee zuckte zusammen. Und im selben Augenblick wusste sie, was fehlte. Bidayn! Der Lärm ihres nächtlichen Marsches war verstummt! Vor einer Weile schon. Erschrocken fuhr Nandalee herum. Ihre Freundin stand dicht hinter ihr. Sie schien zu grinsen, soweit das in der Dunkelheit zu erkennen war. Dann hob sie einen Fuß und stampfte auf den felsigen Boden. Kein Geräusch war zu vernehmen.
»Was soll das?«, murrte Gonvalon. »Ein Zauber?«
Vermutlich antwortete Bidayn, denn ihre Lippen bewegten sich, doch kein Wort war zu vernehmen.
»Hör auf damit!«, zischte Gonvalon. »Hast du alles vergessen? Nangog ist anders! Wenn du hier zauberst, ist das, als würdest du ein Signalfeuer entfachen, damit man uns auch auf jeden Fall findet!«
Ihre Freundin schnitt eine Grimasse und machte eine flüchtige Geste. Immer noch bewegten sich ihre Lippen. »… das Tor durch den Albenpfad auch gesehen. Das muss ein regelrechter Leuchtturm gewesen sein!«
»Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir uns unauffällig verhalten«, beharrte Gonvalon.
»Wovor verstecken wir uns eigentlich?«, fragte Nandalee, verärgert über die ganze Geheimniskrämerei. »Vor denen da unten?«
»Die sollten sich besser auch verstecken«, entgegnete Gonvalon kühl. »Ich kann dir nicht erklären, was ich selbst nicht verstehe. Ich kann euch beiden nur raten, äußerst vorsichtig zu sein. Nangog ist eine Welt, die nicht für uns Elfen erschaffen wurde. Wir gehören hier nicht hin. Und ich bin mir ganz sicher, dass wir hier nicht erwünscht sind. Also hütet euch! Und was dich betrifft, Bidayn. Es ist allemal besser, wie ein betrunkener Kobold herumzutapsen, als zu zaubern. Halte dich daran.« Mit diesen Worten wandte er sich ab und folgte weiter dem Lauf des Bachbetts.
Nandalee warf Bidayn einen kurzen, entschuldigenden Blick zu, und die Freundin lächelte. Schon gut, schienen ihre Augen zu sagen, aber Nandalee war noch immer erstaunt. Gonvalon war kaum wiederzuerkennen. Wehmütig dachte sie an die Felsen über dem Jadegarten, an ihre geflüsterten Liebesschwüre und seine Leidenschaft. All das schien einfach verflogen zu sein. Sie fragte sich, was er wusste. Was war hier in dieser Welt so gefährlich? Und warum redete er nicht darüber?
Sie ließ sich ein wenig zurückfallen und blieb an Bidayns Seite.
»Das magische Netz ist hier anders«, flüsterte ihre Gefährtin, nachdem sie eine Weile schweigend durch das Bachbett gestiegen waren. »Es ist sehr aufregend. Es ist einfacher, einen Zauber zu weben. Die Muster der Lichtfäden sind komplexer und dichter. Alles ist noch enger miteinander verwoben als in Albenmark! Du solltest es dir ansehen! Es ist einfach unglaublich und wunderschön! «
Nandalee verspürte keinerlei Versuchung, Nangog durch ihr Verborgenes Auge zu betrachten. Auch wenn sie in der Kunst der Zauberweberei deutliche Fortschritte gemacht hatte, würde sie dafür nie dieselbe Begeisterung aufbringen wie Bidayn. Immer noch musste Nandalee an Sayns Unfall denken. Wenn es denn ein Unfall gewesen war …
Bidayn bemerkte ihre Stimmung nicht und redete einfach weiter. »Diesen Zauber, der alle Geräusche verschlingt. Ich habe einfach daran gedacht, was ich erreichen wollte, und alles hat sich gefügt. Es war … als würde jemand dabei helfen.«
Nandalee hatte wieder das Gefühl, dass sie jemand beobachtete. Sie drehte sich ruckartig um. Hatte sich gerade ein Schatten vom Rand des Steilufers zurückgezogen, oder gaukelten ihr ihre Augen Dinge vor, die es gar nicht gab?
»Kennst du die Geschichten über Nangog?«, raunte Bidayn.
»Was für Geschichten?«, entgegnete Nandalee gereizt. Sie überlegte, den Rand der Böschung zu erklimmen, und sich zu vergewissern, dass dort nichts war.
»Eigentlich sind es nur Märchen … Angeblich haben Alben und Devanthar die Welt gemeinsam aus dem Leib einer schlafenden Riesin erschaffen.«
»Das klingt in der Tat wie ein Märchen.«
»Du hast gefragt.« Bidayn klang beleidigt.
Schweigend folgten sie Gonvalon weiter abwärts. Endlich verließen sie die tiefe Bachrinne und tasteten sich durch einen dichten Fichtenwald. Kein Sternenlicht drang hinab bis auf den Waldboden. Sie schritten über dicke Nadelpolster und selbst Bidayn bewegte sich jetzt lautlos.
Sie kamen nur langsam voran. Einmal hörten sie nicht weit entfernt lautes Rumoren. Wildschweine, dachte Nandalee, die mit ihren Hauern den Boden aufreißen. Sie fühlte sich nicht fremd in dieser neuen Welt. Sie mochte Nangog.
Der Wald wurde lichter. Hüfthoher Farn strich über ihre Beine. Irgendwo, unsichtbar unter dem Grün, eilte ein kleines Tier davon, das sie aufgeschreckt hatten. Weiße Birkenstämme leuchteten fahl im Dunkel. Nandalee hörte den Fluss. Das leise Flüstern des Wassers am Kiesufer.
Sie erreichten eine sanfte Erhebung, die von einem Ring von Bäumen umschlossen war. Von hier hatte man einen guten Blick über den breiten Strom. Am anderen Ufer sah man den matten Glutschein heruntergebrannter Lagerfeuer.
»Hier lagern wir«, entschied Gonvalon. »Es gibt kein Feuer! Und wir teilen Wachen ein. Ich übernehme die erste, Nandalee die zweite. Bidayn wird vom Morgengrauen bis zur Mittagsstunde wachen. Wir werden die Menschenkinder beobachten und ergründen, was sie hier tun.«
Nandalee sagte nichts, obwohl sie recht offensichtlich fand, was drüben am anderen Ufer geschah. Deutlich konnte sie die Baumstämme sehen, die sich auf dem Kies türmten. Sie hatten ein Holzfällerlager gefunden, vermutete sie. Da gab es gewiss nichts Besonderes zu beobachten. Die Menschenkinder würden aufstehen, essen und dann ihr Tagwerk verrichten. Allerdings war Nandalee neugierig, wie Menschen aussahen. Sie wusste nur wenig über das Volk, das den Devanthar untertan war. Ungeschickt, streitlustig und hässlich wie Kobolde sollten sie sein – und noch schlimmer stinken als das kleine Volk.
»Sollten wir nicht ausspähen, wie viele es sind?« Nandalee war nicht müde, und Gonvalon wahrscheinlich auch nicht. Vermutlich hatte er wegen Bidayn entschieden, dass sie lagern sollten.
»Wir bleiben hier«, befahl er knapp. »Und da dies eine Welt voller unbekannter Gefahren ist, wird keiner von euch beiden seinen Wachposten verlassen, während die anderen schlafen.«
Nandalee fühlte sich ertappt – Gonvalon kannte sie zu gut. Die mächtigsten Zauberweber Albenmarks vermochten nicht in ihren Gedanken zu lesen, doch er konnte es. Ganz ohne Magie. Er musste ihr dafür nicht einmal ins Antlitz blicken. Er wusste einfach, wie sie dachte.
Der Dunkle hatte ihr verraten, was Matha Naht ihm angetan hatte. Gonvalon selbst hatte mit keinem Wort davon gesprochen. Sie wünschte, er wäre ihr gegenüber so offen, wie sie es zu ihm war. War das für Liebende nicht eine Selbstverständlichkeit?
Als sie den Blick hob, begegnete sie seinem spöttischen Lächeln. Er wusste genau, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte. Manchmal war er eine Spur zu arrogant.
»Ich vertraue euch«, sagte er in versöhnlichem Tonfall. »Sucht euch nun einen guten Platz zum Schlafen. Die Zeit, die Menschenkinder auszuspähen, wird kommen. Und glaub mir, Nandalee, sie sind kein besonderes Wild. Du wirst sie bald unangenehm und langweilig finden.«
Sie fragte sich, woher er die Menschen so genau kannte. Ob er wohl schon oft in ihrer Welt gewesen war? Sah es dort aus wie hier oder ganz anders?
Sie schnallte den wuchtigen Zweihänder ab und lehnte ihn neben ihrem Bogen an einen Baum. Schweigend aßen sie ein wenig Brot und Käse. Manchmal blickte sie kurz zu Gonvalon. Sie sehnte sich nach ihm, aber sie waren übereingekommen, in Bidayns Gegenwart Zurückhaltung zu üben. Eine blöde Vereinbarung, dachte sie jetzt. Bidayn wusste ohnehin, dass sie beide ein Paar waren. Aber Gonvalon wollte ihre Verbindung noch immer geheim halten, so wie er es auch in der Weißen Halle getan hatte. Für ihn schien es kein Widerspruch zu sein, zwei Gesichter zu haben. Tagsüber war er ihr gestrenger, unnahbarer Lehrmeister, um nachts zu einem leidenschaftlichen Liebhaber zu werden. Was war sein wahres Gesicht, fragte sie sich manchmal. Wenn sie doch nur ohne Bidayn hier wären! Ein paar Wochen mit ihm allein, ohne dass er sich gezwungen sah, sich zu verstellen. Würde sie das jemals erleben?