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Das wünschte ich auch, dachte sie.

Das jenseitige Ufer

Nandalee tastete nach ihrem Köcher. Lautlos zog sie einen Pfeil heraus und legte ihn auf die Sehne ihres Bogens. Es war zu still! Sie gab Gonvalon ein Zeichen, dass sie weiter vorgehen würde. Es war später Nachmittag und sie hatten Bidayn mehr als hundert Schritt hinter sich zurückgelassen. Nandalee hatte ein schlechtes Gewissen deshalb, aber ihre Freundin war einfach zu laut!

Sie duckte sich und pirschte vorwärts. Ein Stück voraus entdeckte Nandalee ein Menschenkind! Überall auf seinem Gesicht sprossen Haare. Es trug Kleider, aber Nandalee fand, dass es mit diesem struppigen Fell einem Tier ähnlich sah. Nicht einmal Kobolde hatten Haare im Gesicht! Es schien männlich zu sein. Der Menschensohn saß reglos an einen Baum gelehnt. Er blickte in ihre Richtung, aber sie war sich ganz sicher, dass er sie nicht gesehen hatte. Nandalee kauerte hinter einem dichten Brombeerbusch. Seltsam, wie reglos er blieb …

Gonvalon pirschte ein Stück rechts von ihr weiter vor. Hinter einem dicken Eichenstamm hielt er inne. Er nickte ihr zu.

Nandalees Stiefel waren noch nass. Das Leder quietschte leise, als sie in die Hocke ging. Sie hatten einen sehr weiten Bogen schlagen müssen, um eine Stelle zu finden, an der sie den Fluss überqueren konnten. Und auch dort hatte ihnen das Wasser noch bis zur Brust gereicht. Bidayn wäre fast abgetrieben worden. Sie hatte ihre Tasche mit den Vorräten verloren. Im Gegensatz zum vorherigen Tag hatte sie allerdings nicht gejammert. Nandalee wusste, was das bedeutete. Wenn Bidayn still wurde, ging es ihr wirklich schlecht. Ihre zierliche Freundin war für lange Wildnismärsche nicht geschaffen. Solche Strapazen hatte sie nie zuvor in ihrem Leben auf sich genommen. Es wäre besser gewesen, eine andere Zauberweberin für dieses Abenteuer zu suchen.

Nandalee verließ ihre Deckung. Dabei behielt sie den Wächter im Blick. Etwas stimmte nicht mit ihm! Niemand konnte so reglos sitzen! Ein Stück voraus sah sie etliche in Decken gehüllte Gestalten am Boden liegen. Als schliefen sie alle noch. Am späten Nachmittag!

All das konnte nur eines bedeuten. Die Elfe entschied sich, alle Vorsicht fahren zu lassen. Hier war es nicht mehr nötig zu schleichen. Keines der Menschenkinder würde sie mehr bemerken. Sie waren tot!

Sie nahm den Pfeil von der Sehne.

Nandalee trat neben den Mann am Baum. Sie konnte keine Wunde bei ihm entdecken und tastete vorsichtig nach seinem Hals. Lebte er vielleicht doch noch? Seine Haut war trocken, einen Pulsschlag fand sie nicht. Sie tastete über das bärtige Gesicht. Es wirkte alt und ausgezehrt. Ein Kranz tiefer Falten umgab die Augen, die Lippen waren spröde und rissig. Verwundert betrachtete Nandalee das Erdreich bei dem Toten. Keinerlei Leichenflüssigkeit! Es waren nicht einmal Fliegen gekommen, um ihre Eier in dem Leichnam abzulegen.

Ein wenig erschrocken wich Nandalee vor dem Mann zurück.

»Bei den Alben!«, hörte sie Gonvalon rufen. Er kniete neben einem Toten, der mit etlichen anderen bei einem erloschenen Lagerfeuer lag. »Komm! Komm und sieh dir das an! Ich habe versucht, einen von ihnen umzudrehen …«

Nandalee ging zu ihm hinüber. Zunächst verstand sie nicht, was er meinte.

Gonvalon versuchte erneut den Mann herumzudrehen, der vor ihm, in eine Decke gehüllt, auf dem Boden lag. Er vermochte ihn kaum anzuheben. »Sieh unter seine Hand!«

Ein Netzwerk wie dünne Adern lief aus der Hand in den Boden.

»Er ist mit dem Boden verwachsen«, sagte Gonvalon, hörbar um Fassung ringend. »Als habe etwas seine Adern aus seinem Fleisch in die Erde hinabgezogen! Sein Leib ist völlig ausgetrocknet. «

Nandalee hörte Bidayns Schritte. Sie wollte ihrer Freundin den Anblick ersparen, doch Bidayn hatte bereits den toten Wächter am Baum erreicht. Sie zwackte der Leiche in die Wange!

»Der wird nicht mehr wach«, sagte Gonvalon nüchtern. »Wir sollten gehen!«

»Ich finde, wir sollten wissen, wie sie gestorben sind, damit uns kein ähnliches Schicksal widerfährt.« Bidayn kam zu ihnen herüber. Ganz offensichtlich schien ihr der Anblick von Toten nichts auszumachen. Nandalee war überrascht, wie kaltblütig ihre Freundin blieb. Sie hatte sie wieder einmal falsch eingeschätzt. Bidayn betrachtete den Toten unter der Decke, während ihr Gonvalon auseinandersetzte, dass man sich wohl kaum davor schützen konnte, dass die Erde einem die Adern aus dem Leib zog.

Bidayn zupfte eine der feinen Adern unter der Handfläche des Toten fort und zerrieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie schnupperte an ihren Fingern. Dann legte sie den Kopf in den Nacken. »Ich widerspreche zwar nur ungern einem Lehrmeister«, sagte sie in einem Tonfall, der das Gegenteil vermuten ließ, »aber ich glaube, du irrst, Gonvalon. Habt ihr beide euch schon mal die Bäume angesehen? Insbesondere die Blätter.«

Nandalee blickte auf. Die Adern der Blätter zeichneten sich dunkel gegen das Blattgrün ab. Überall, rings um den Lagerplatz!

»Es sind keine Adern aus den Körpern der Toten ausgetreten, sondern feine Haarwurzeln in sie eingedrungen. Sie wurden leer getrunken.«

Gonvalon keuchte. »Das …«

Nandalee sah ihn zittern. Er ballte die Fäuste, damit es aufhörte. Sie dachte an das, was der Dunkle ihr über Matha Naht erzählt hatte. Was der Holunder Gonvalon angetan hatte. Am liebsten würde sie ihn in die Arme nehmen. Aber er würde das nicht wollen. Nicht im Angesicht von Bidayn. Nandalee ahnte, dass er nur um ihretwillen zu Matha Naht gegangen war, auch wenn sie nicht wusste, was der Holunder ihm hätte geben können.

»Aber warum haben wir sie nicht schreien gehört?« Gonvalon hatte sich wieder im Griff. »Es kann doch nicht schnell gegangen sein. Ich … Sie müssen einen langsamen Tod gestorben sein.«

»Ihre Gesichter wirken ganz friedlich«, entgegnete Bidayn. »Ich glaube nicht, dass sie bemerkt haben, was ihnen widerfahren ist. Sie sind in den Tod hineingeschlafen. Wer immer hierfür verantwortlich ist, hätte sie auch grausamer hinrichten können.«

»Von Wurzeln durchbohrt zu werden soll schmerzlos sein?« Nandalee dachte an die Geschichten, die man sich über die Wälder am Fuß des Albenhauptes erzählte. Dort, wo das Elfenvolk der Maurawan lebte. Auch von diesen Wäldern hieß es, dass sie Eindringlinge töteten. Selbst Trolle fürchteten sich davor, und Wild, das es schaffte, vor den hünenhaften Jägern in die Schatten der alten Eichen zu flüchten, war vor jeder weiteren Verfolgung sicher.

»Das kann sehr wohl schmerzlos sein«, beharrte Bidayn. »Hast du einmal zugesehen, wenn eine Mücke ihren Stachel in deine Haut sticht?«

»Ich pflege Mücken nicht die Gelegenheit zu geben, mich zu stechen.«

»Daraus kann man aber lernen. Es ist erstaunlich. Es tut nicht weh, wenn sie den Stachel benutzen. Man sieht ihn eindringen, aber man spürt nichts. Vielleicht ist er mit einem Gift benetzt, durch das jeder Schmerz betäubt wird? Vielleicht war es bei den Wurzeln genauso? Wer weiß…«

Nandalee sah zu all den gefällten Bäumen und einer Reihe von fast drei Schritt hohen Erdkegeln, die von den Menschenkindern errichtet worden waren. Ihr Blick wanderte über das weite Feld von Baumstümpfen. Nur ein Teil der Stämme war zum Fluss geschafft worden. Der Rest und ein Großteil der Äste waren verschwunden. Neugierig geworden, untersuchte die Elfe einen der Kegel. Unter einer Decke aus Erde, Gras und Moos fand sie Holz. Auch entdeckte sie einen mit Reisig gefüllten Feuerschacht. Man hatte Holz unter der Erde wohl abbrennen wollen, doch zu welchem Zweck, war ihr schleierhaft.

Nandalee untersuchte noch zwei weitere Hügel. Sie alle waren ähnlich angelegt. Dann entdeckte sie jenseits des Holzschlags im Schatten einer Linde zwei massige Pferde. Beide trugen noch ihr Zaumzeug. Beruhigend auf die Tiere einredend, ging sie hinüber. Sie waren nicht scheu. Das Maul der Pferde war zerschunden. Dicht über dem Widerrist war ihr Fell aufgescheuert und voller Narben. Vorsichtig nahm die Elfe den beiden das Zaumzeug ab. Das größere Pferd, eine rote Stute mit vertrauensseligen Augen, drückte ihr die Schnauze gegen die Hand. Nandalee überlegte, ob die beiden wohl in der Wildnis überleben konnten. Wieder blickte sie auf das zerschundene Fell. Wenn sie frei waren, würde es ihnen besser gehen. Sie löste das Zaumzeug, dann ging sie zu ihren Gefährten zurück.