»… werden wir niemals erfahren, was hier geschehen ist!«, brachte Bidayn aufgebracht hervor.
»Keine Magie!«, entgegnete Gonvalon mit fast schon feindseliger Entschiedenheit. »Es liegt doch auf der Hand, dass hier ein Zauber gewirkt wurde. Was willst du noch untersuchen?«
»Wenn wir wüssten, wie er gewirkt wurde, würden wir mehr darüber erfahren, wer es getan hat. Jeder Zauber verändert das natürliche magische Muster. Mit jeder Stunde, die verstreicht, erholt sich die Matrix. Es ist so, als ob man über Gras schreitet. Nach ein paar Stunden hat es sich wieder aufgerichtet und man kann nichts mehr …«
»Genug! Ich war auch einmal ein Schüler des Schwebenden Meisters. Du musst mir keine Vorträge über Magie halten. Wir gehen jetzt! Wir brauchen nur den Spuren der Menschenkinder zu folgen, dann werden wir schon sehen, wen sie sich zum Feind gemacht haben.«
Bidayn setzte zu einer Antwort an, als Nandalee sie am Arm packte und zu sich zog. »Lass ihn. Du solltest nicht mit ihm streiten. Er hat recht. Wir müssen gehen.«
»Aber dieses grüne Licht, von dem du erzählt hast. Wahrscheinlich hat es den Zauber begleitet. Manche Zauberweber verursachen als einen Nebeneffekt ihrer Kunst lumineszierende Körper. Ich habe es selbst schon gesehen. Eleborn macht das sogar absichtlich. « Sie sah in Gonvalons Richtung. »Im Übrigen können wir hier nicht einfach gehen! Nur Trolle lassen Tote einfach herumliegen. «
»Trolle, meine Liebe«, fuhr er sie an, »fressen Tote. Rede nicht von Dingen, von denen du keine Ahnung hast. Wer immer das getan hat, wollte den Menschenkindern eine Botschaft schicken. Und wir mischen uns in diesen Streit nicht ein. Wir werden hier nichts verändern! Wir sind nur Kundschafter.«
»Er hat wirklich recht«, sagte Nandalee beschwichtigend. Sie war erstaunt, wie sehr sich Bidayn für ihren Standpunkt einsetzte. Früher war sie nicht so gewesen. Auch sie hatte sich in den vergangenen Monden verändert.
Nandalee bemerkte, wie Gonvalon sie mit einem ebenso überraschten wie dankbaren Blick bedachte. »Verlassen wir das Lager. Wenn wir flussabwärts gehen, werden wir herausfinden, was hier geschehen ist.«
»Siebenundzwanzig Tote, und er lässt sie einfach liegen«, zischte Bidayn. »Er ist nicht besser als ein Troll.«
Nandalee musste schmunzeln. »Wir sollten ihm vertrauen. Er weiß, was zu tun ist.«
»Woher will er wissen, was in einer Welt, die noch kein Elf betreten hat, zu tun ist?«
»Er kennt die Menschenkinder. Und er ist ein Drachenelf. Er ist nicht leicht umzubringen, falls dir das Sorge bereitet.«
Bidayn sah sie zweifelnd an. »Aber ich bin keine Drachenelfe. Ich bin leicht umzubringen, fürchte ich. Und ich werde ganz sicher nicht mehr in der Nähe von Bäumen schlafen!«
Nandalee verzichtete auf eine Antwort. Sie wusste, wann es keinen Sinn mehr machte, mit Bidayn zu diskutieren.
Schweigend folgten sie dem Fluss, und Gonvalon sollte recht behalten. Kaum zwei Meilen flussabwärts fanden sie einen weiteren, noch viel größeren Kahlschlag. Auch entdeckten sie große Aschekreise, umgeben von zerwühlter Erde. Wie es schien, hatten die Menschenkinder hier die Feuerhügel abgebrannt, die sie in dem anderen Lager nur vorbereitet hatten. Die Gefährten fanden keine Gräber und keine Spuren, die darauf hinwiesen, dass es hier einen ähnlichen Überfall gegeben hätte. Also wanderten sie weiter.
In den nächsten Tagen fanden sie noch mehr als ein Dutzend Kahlschläge. Nandalee empfand sie wie Narben im Land. Für sie waren die Zerstörungen umso schlimmer, da sie keinen Nutzen darin erkennen konnte. Warum verbrannte man Bäume in Erdhügeln?
Die Landschaft veränderte sich mit jedem Tag, den sie dem Fluss folgten. Die Berge wurden schroffer. Sie wanderten durch eine weglose Wildnis. Es wäre ein Leichtes gewesen, ein Floß zu bauen, um sich auf dem Fluss mit der Strömung treiben zu lassen, aber Gonvalon war strikt dagegen. Nandalee verstand nicht, warum er eine plötzliche Begegnung mit den Menschenkindern fürchtete. Ihre Tarnung war gut, und es waren doch noch niemals Elfen auf Nangog gewesen, oder nicht? Warum also sollten die Menschenkinder ihnen feindselig begegnen? Doch Gonvalon ließ sich nicht überzeugen und schließlich fügten sie sich, sich Tag um Tag ihren Weg durch die Wildnis zu erkämpfen.
Vor allem Bidayn litt. Oft war sie schon zur Mittagszeit so erschöpft, dass sie sich kaum noch voranschleppen konnte. Sie jammerte wenig. Sie war sich dessen bewusst, dass sie ihre beiden Gefährten aufhielt.
Zu den Strapazen des Marsches kam das stete Gefühl, beobachtet zu werden. Tiere sahen ihnen auf eine Weise nach, wie es Tiere nicht tun sollten. Einmal hatte Nandalee sogar das Gefühl gehabt, dass ein Baum sie anstarrte. Sie hatte den anderen davon nichts gesagt – zum einen, weil sie sich lächerlich vorgekommen wäre, und zum anderen, weil Bidayn eine geradezu absurde Angst vor Bäumen entwickelt hatte. Jeden Abend mussten sie einen Lagerplatz suchen, der weit weg von Bäumen und Wurzelwerk lag, was in der Regel bedeutete, dass sie auf nacktem Fels übernachteten.
Aus Rücksicht auf Bidayn legten sie jeden Mittag eine lange Rast ein und beendeten ihren Marsch abends schon zwei Stunden vor Sonnenuntergang. Nandalee hatte sich mit Gonvalon darauf geeinigt, dass er in den Mittagsstunden als Späher vorauseilte. Sie hingegen ging abends auf die Jagd. So nannten sie es gegenüber Bidayn. Doch mindestens genauso wichtig wie die vorgeschobenen Gründe war es beiden, ein paar Stunden allein zu sein.
Einmal entdeckte Nandalee Boote auf dem Fluss. Es waren leichte Gefährte aus Weidenruten und Leder. Sie wirkten unförmig und waren fast rund. Die Ruderer in den Booten kämpften hart gegen die Strömung des Flusses an. Ob die Menschenkinder auf der Suche nach den Holzfällern waren?
Nur zwei Mal gerieten sie auf ihrer Wanderschaft in kurze Schauer. Meist war den Gefährten das Wetter wohlgesonnen. Wolken schirmten die Sonne ab.
Es war an einem sonnigen Nachmittag, als Bidayn große zwischen den Wolken treibende Schatten entdeckte. Etwas Massiges, zu fern, um es deutlich zu erkennen. Klar war nur, dass es riesig sein musste! Waren es fliegende Schiffe? Oder Tiere, die es auf wunderbare Weise vermochten, sich ohne Flügel in der Luft zu halten? Nangog gab ihnen immer neue Rätsel auf! Über eine Stunde beobachteten sie die Schatten. Doch die Wolken zerrissen nicht. Vielleicht war es ja auch besser, wenn ihnen verborgen blieb, was die Weiten des Himmels bevölkerte.
Am sechsten Abend ihrer Reise war Nandalee wieder einmal alleine auf Jagd. Die Sonne neigte ihr Haupt hinter die Berge und erste Schattenfinger krochen aus den Tälern den Gipfeln entgegen. Nandalee kauerte hinter einem Fels verborgen oberhalb eines Wildwechsels und hoffte darauf, eine der wilden Ziegen erlegen zu können, die sie am Nachmittag über ihrem Weg an der steilen Bergflanke beobachtet hatte. Doch der Wind stand schlecht. Er trieb ihre Witterung zu den Ziegen und die Tiere wanderten weiter.
Ein großer, graubrauner Raubvogel kreiste über ihr. Mit weit ausgebreiteten Flügeln trieb er auf dem Wind. Er sah sie an und Nandalee war versucht, nach ihrem Bogen zu greifen. Nangog zehrte an ihren Nerven. Sie war nicht ängstlich, aber nicht zu wissen, wer oder was ihr nachstellte, war eine neue Erfahrung.
Die Elfe löste die Sehne aus der oberen Bogennocke, rollte sie auf und verstaute sie in einem kleinen Lederbeutel. Für heute würde sie die Jagd aufgeben. Gonvalon hatte am Nachmittag Pilze und sogar ein paar Zwiebeln gefunden. Sie brauchten kein Fleisch.