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Da stieß der Raubvogel einen schrillen Schrei aus, legte seine Flügel an und kam im Sturzflug auf sie zu. Erschrocken wich sie zurück und riss die Arme hoch, um ihr Gesicht vor den Krallen zu schützen, doch statt sie anzugreifen, landete er auf einem Felsen, drehte den Kopf zur Seite und starrte sie durchdringend an. Nandalee wich ein Stück weiter zurück. Mit dem Vogel war eine unerklärliche Kälte gekommen. Er beugte sich vor, weitete die Flügel. Es schien, als wolle er schreien. Doch kein Laut drang aus dem weit aufgerissenen Schnabel. Er spie grünen, leuchtenden Nebel! Wie ein Wurm wand sich dieses Ding aus dem Greifvogel und sickerte den Fels hinab.

Eisige Kälte schlug Nandalee ins Gesicht, und auf den Federn des Vogels wucherte Raureif. Der Räuber stieß einen befreiten Schrei aus, schüttelte sich, schlug mit den Flügeln und erhob sich in die Lüfte. Das grüne Leuchten aber blieb.

Nandalee wich weiter zurück. Mit dem Rücken gegen einen Steilhang hatte sie keine andere Wahl, als seitlich auf dem schmalen Saumpfad auszuweichen. Ohne den Blick von diesem Wurm aus grünem Licht zu lassen, balancierte sie über den engen Steig. Sie war von dem Weg abgeschnitten, über den sie gekommen war.

Zoll um Zoll tastete sie sich zurück. Geröll machte den Boden unsicher.

Der seltsame Lichtwurm wand sich mal in Spiralen, dann wieder zerfloss er zu einer Wolke. Das Licht wechselte an Intensität. Nandalee ahnte, was die Kreatur wollte. Sie besitzen. Ausfüllen, so wie den Greifvogel. Sie presste die Lippen zusammen.

Die Elfe spürte, dass etwas hinter ihr war. Groß, massig. Aber sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Die Lichtwolke wurde wieder zu einem langen, sich windenden Strang. Wie eine Schlange, dachte Nandalee.

Sie trat noch einen Schritt zurück. Ihre Ferse streifte Fels. Sie tastete mit der Linken hinter sich. Ein Felsblock, eine Steilwand … Etwas Großes versperrte den Weg. Sie wagte es immer noch nicht, hinter sich zu blicken. Sie durfte dieses grüne Licht nicht aus den Augen lassen. Nicht einen Herzschlag lang! Ihr Fuß tastete zur Seite. Da war kein Pfad mehr. Aus den Augenwinkeln sah sie den Hang hinab. Zu steil, dachte sie. Sie würde sich den Hals brechen! Sie würde … Der Lichtwurm richtete sich auf. Wie eine Viper, die zustoßen wollte.

Sie schlug mit dem Bogen nach der Kreatur. Die Waffe glitt widerstandslos durch die Erscheinung. Etwas Eisiges streifte ihre Wange und Kälte floss an ihr hinab. Erschrocken schrie sie auf. Das war ein Fehler.

Die große Dienerin

»… Aber es genügte der großen Dienerin nicht, sich auf den Dienst für ihre beiden Herren zu bescheiden. Und so floh sie in die Weite des endlosen Dunkels. Dort kauerte sie sich zusammen und sie war einsam. Und sie dachte daran, was sie für die anderen vollbracht hatte und was sie auf den beiden Welten gesehen hatte. Und sie wollte es besser machen als ihre gestrengen Herren. So dachte sie an einen vollkommenen Baum von ebenmäßigem Wuchs und kräftigen Wurzeln. Und so wie unsereins ein Haar auf dem Handrücken wächst, so wuchs aus ihrer Haut ein Baum, wohl hundert Schritt hoch. Die große Dienerin erfreute sich an ihm und erschuf nach seinem Bilde noch hundert mal hundert seinesgleichen. Dann dachte sie, dass ihre Bäume einsam sein mochten, und sie erschuf einem jeden von ihnen tausend mal tausend kleinere Gefährten. Diese aber unterschieden sich und waren von vielfältiger Art. Die ersten Bäume der großen Dienerin überragten sie, wie eine Mutter ihre Kinder überragt. Und gleich einer Mutter wachten die Älteren über die Jüngeren.

So schuf die große Dienerin noch viele Pflanzen. Gräser und Büsche und Moose und seltsam fleischiges Kraut, das auf dem Grunde der Meere gedieh. Danach aber dachte die große Dienerin an all die Tiere, die sie auf den anderen Welten gesehen hatte, und ein Gedanke ließ sie aus ihrem Fleisch wachsen. Zuletzt wollte sie Neues erschaffen. Geschöpfe, wie sie noch keiner gesehen hatte. Kreaturen, die mit den Wolken ziehen sollten, und Donnerwanderer mit Schlangenhälsen, so lang, dass sie aus den Wolken trinken könnten, und Beinen so mächtig, dass sie durch die Wälder wanderten, wie auf den anderen Welten die Büffel durch hohes Gras wandern. Und sie ließ jene nah bei ihrem Herzen reifen, die ihre Kinder sein sollten. Sie sollten die schönsten unter ihren Geschöpfen werden. Friedfertige Hirten, die über ihre Welt wanderten und sie hegten wie jene Gärtner, die über die Rosenbüsche im Palastgarten von Akšu wachen und ihnen so sehr verschrieben sind, dass sie kein Weib zur Ehe nehmen und sich bei den Wurzeln ihrer Rosen bestatten lassen, wenn ihre letzte Stunde gekommen ist. Als aber die große Dienerin ihren Kindern den Atem des Lebens einhauchen wollte, um unsterbliche Seelen in sie zu pflanzen, da wurden ihre Herren gewahr, was sie tat. Und sie bestraften sie. Und der Atem der großen Dienerin strich über die Welt, ohne ihre Kinder zu finden. Ihre Herren aber erkannten, was der Grund für die Taten ihrer Dienerin war, litt sie doch an einem Übermaß an Gefühl. Und so nahmen sie ihr das Herz, das der Sitz aller Gefühle ist. Daraufhin fügte sich die große Dienerin und sie tat wieder ihre Arbeit und vergaß ihre Kinder. Ihr Herz aber wurde in zwei Hälften geteilt und an zwei verschiedenen Orten verborgen. Und bis auf den heutigen Tag vermochte niemand ihr Herz wiederzufinden …«

Vermutlich von den auf Nangog lebenden Menschen überlieferter Schöpfungsmythos, niedergeschrieben von Meliander von Arkadien, Blatt XVII Der Sammlung Nangog, verwahrt in der Bibliothek von Iskendria, im Saal des Lichtes vergraben an einem Ort, der nur Galawayn, dem Hüter der Geheimnisse, bekannt ist.

Die Unberührbaren

Sie war zu lange fort! Immer wieder blickte Bidayn vom Feuer auf und sah zum Waldrand hinab. Längst herrschten dort die Schatten. Nichts rührte sich, soweit sie sehen konnte. Bisher war Nandalee stets kurz nach Einbruch der Dämmerung zurückgekehrt, aber jetzt war sie zu lange fort! Diese Welt machte Bidayn Angst. Die Bäume, die mordeten. Das Gefühl, in jedem Augenblick beobachtet zu werden. Und das strikte Verbot zu zaubern. So musste sich Gonvalon fühlen, wenn man ihm sein Schwert abnahm.

Ihre Gefährten machten ihr auch zu schaffen. Sie fanden nichts dabei, allein loszuziehen, doch Bidayn würde tausend Tode sterben, wenn sie in dieser Wildnis allein wäre. Es war ja schon schlimm genug, wenn nur einer von den beiden auf sie aufpasste. Elfen hatten in dieser Welt nichts verloren! Sie hatte nicht einmal begriffen, warum sie hier waren! Würden sie die Menschenkinder täuschen können, falls sie einmal Lebenden begegnen sollten? Die Welt Nangog konnten sie ganz gewiss nicht täuschen! Hier ging etwas vor. Bidayn dachte daran zurück, als sie den Zauber gewoben hatte, der um sie herum einen Bereich der Stille erschaffen hatte. Es war so leicht gewesen. Diese Welt war dazu geschaffen, hier zu zaubern. Warum, wenn es keine Zauberweber gab? Keine vernunftbegabten Wesen? Offensichtlich konnten hier Bäume zaubern, dachte sie mit einem Schaudern. Vielleicht auch Tiere? Alles war hier anders. Alles beobachtete sie! Wenn sie wenigstens mit ihren Gefährten darüber reden könnte! Wenn die beiden ihr nur für einige Augenblicke gestatten würden, ihr Verborgenes Auge zu öffnen, um die Matrix dieser Welt besser zu verstehen! Bidayn seufzte und starrte zum Waldrand. Nandalee war noch immer nicht zurück. Wo blieb sie nur so lange? Sie nahm einen Stock und stocherte damit im Feuer herum. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte nach Nandalee gerufen, aber sie wollte sich nicht aufführen wie ein Kind.

»Du verdirbst dir die Nachtsicht, wenn du immer wieder ins Feuer blickst.« Gonvalon war so sehr um einen unverbindlichen Tonfall bemüht, dass seine Anspannung nur umso greifbarer wurde.

»Ich weiß, sie kann ganz gut auf sich aufpassen …« Bidayn schob das Ende des Holzstocks unter den Henkel des kleinen, rußgeschwärzten Topfes, hob ihn vorsichtig vom Feuer und stellte ihn auf einen flachen Stein nahe der Glut. So blieb ihr Essen warm, bis Nandalee zurückkam.