»Sie bauen ihre Häuser nicht sehr fest«, sagte Gonvalon plötzlich und nickte gen Osten, wo man immer noch ein bedrohliches, rotes Glühen unter den Wolken sah. »Ich glaube, es sind Luwier, die hier leben. Jedenfalls sahen die Bärte und die Tuniken der Holzfäller so aus, als seien sie Luwier gewesen. Wir haben Glück gehabt.«
Bidayn traute ihren Ohren kaum. Seitdem der Dunkle ihnen ihren Auftrag gegeben hatte, hatte Gonvalon nicht mehr so viel über die Welt der Menschenkinder gesprochen. Offenbar sandten die Drachen schon seit geraumer Zeit Spitzel in die Welt der Menschen. Obwohl Meister wie Lyvianne sie in den Sprachen und Gebräuchen der Menschen unterrichteten, wurde in der Weißen Halle nicht darüber gesprochen welche Missionen die Elfen auf Daia ausführten. Warum das so war, konnte sich Bidayn nicht erklären. Die meisten Späher kamen wohl aus der Blauen Halle … Aber war das ein Grund, so gar nicht darüber zu reden?
»Du warst schon oft in der Welt der Menschenkinder?«
»Einige Male«, entgegnete Gonvalon vage. Plötzlich lächelte er. »Sie stinkt, weißt du. Und sie ist … zu voll.«
»Und warum haben wir Glück gehabt? Ich dachte, wir sollten uns als Menschenkinder aus Aram ausgeben und nicht als Luwier?«
»Es gibt sowohl in Luwien als auch in Aram eine Provinz Garagum. Der Name bedeutet schwarze Wüste. Die beiden Großreiche streiten sich seit langer Zeit um diesen unwirtlichen Landstrich. Im Süden grenzt die Wüste an ein Gebirge, dessen Gipfel bis weit über die Wolken aufragen. Sie nennen diese Berge Deva Kush. Manche glauben, ihre Götter, die Devanthar, leben dort. Ganz sicher aber gedeiht dort Kush, eine vielseitig nutzbare Pflanze. Aus ihren Fasern kann man sehr haltbare Kleidung machen und sie ist ein begehrtes Handelsgut. Man kann ihre getrockneten Blätter auch rauchen. Dann schenken sie einem Träume, in denen man nahe bei den Göttern ist.«
»Rauchen?« Bidayn wusste nicht ganz, was sie sich darunter vorstellen sollte. Auch war sie verwundert, dass Gonvalon plötzlich so gesprächig war. Wobei er ihre Fragen nicht wirklich beantwortete, und statt über seine Erlebnisse über irgendwelche Pflanzen sprach. Dennoch wollte sie, dass er weiterredete. »Wirft man sie ins Feuer und atmet den Rauch ein?«
Gonvalon lachte. »Nein. Das musst du nicht wissen. Du legst doch sicherlich keinen Wert darauf, nahe bei den Devanthar zu sein. Sie würden es nicht schätzen, wenn sie uns in ihrer Welt entdeckten. «
»Aber steckt hinter all deinen Reisen in die Welt nicht die Absicht, eine verwundbare Stelle der Devanthar zu finden?«
»Du machst dir zu viele Gedanken.« Gonvalon wandte den Blick vom Himmel ab und begann seine Suppe zu essen. Das Licht, das von unten auf sein Gesicht fiel, ließ ihn geheimnisvoll aussehen. Und auch ein wenig bedrohlich. Bidayn entschied, dass es wohl klüger wäre, keine Fragen mehr über die Devanthar zu stellen.
»Wir wussten nicht, welches Menschenvolk wir hier antreffen würden, nicht wahr?«
»Wir wissen gar nichts über Nangog«, sagte Gonvalon so entschieden, dass seine Antwort Zweifel in Bidayn aufkommen ließ. »Nangog ist Menschen und Albenkindern verboten. Wir würden mit Sicherheit den Zorn der Alben auf uns ziehen, wenn sie wüssten …« Er schüttelte den Kopf und zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, wirkte er ratlos. »Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum der Dunkle mich ausgerechnet mit euch beiden hierhergeschickt hat. Ihr seid zu … unerfahren. Wir sollten nicht hier sein!«
»Vielleicht hat er Nandalee und mich ausgewählt, weil wir einen unbefangeneren Blick haben?«
»Ja, vielleicht …« Es war nicht zu überhören, dass er ganz und gar nicht ihrer Meinung war.
»Und warum geben wir uns ausgerechnet als Menschen aus Garagum aus? Und warum als Bewohner Arams?«
»Ich habe Aram schon einige Male bereist. Dort kann man sich freier bewegen als in Luwien. Auch beherrsche ich ihre Sprache besser. In Luwien ist die Gesellschaft nach den Gesetzen des Großen Hauses organisiert. Es ist sehr fremd. Es gibt fünf Stände, die sich nicht miteinander vermischen. Garagum ist noch eine junge Provinz. Dort ist das System des Großen Hauses noch nicht gefestigt. Wenn wir sagen, wir kommen von dort, gelten wir nur als Fremde. Bei jeder anderen Provinz würde man uns, so wie wir aussehen, für Unberührbare halten.«
Bidayn fand, dass es sich gar nicht so schlecht anhörte, als unberührbar zu gelten. Das klang erhaben. Sie entschied sich, lieber nicht nachzufragen, aus Sorge, sie könnte den plötzlichen Redefluss Gonvalons durch die falschen Fragen zum Versiegen bringen.
»Die meisten Menschenkinder werden schon einmal von Garagum und den Deva Kush gehört haben. Wegen der Götter, der Stoffe und der Drogen. Aber kaum jemand ist je dort gewesen. Das Volk von Garagum gilt als hart und eigenbrötlerisch – Nomaden, Oasen- und Bergbauern, Jäger und Goldsucher. In ihrem Land ist der Tod stets nahe. Sei es durch Hitze, Kälte, Steinschlag oder Hunger. Niemand wird sich wundern, wenn wir seltsam und fremd erscheinen. Wir werden also sicher reisen, solange man uns glaubt, dass wir von dort kommen.«
Gonvalon erzählte noch lange von der Welt der Anderen. Vom Großen Haus und der Gesellschaft der fünf Stände. Von der Himmlischen Hochzeit, die der Unsterbliche, der Gottkönig von Luwien, zur Sommersonnenwende in der Zikkurat der Heiligen Stadt Isatami feierte, oder von den Geisterwäldern der Drus. Bidayn lauschte ihm voller Begeisterung. Diese Geschichten übertrafen all ihre Träume von der Anderen Welt und sie sehnte den Tag herbei, an dem auch sie so wie Gonvalon dorthin geschickt würde. Als Bidayn schließlich einschlief, folgten ihr die wunderbaren Bilder aus den Erzählungen des Schwertmeisters noch bis in die Träume. Am nächsten Morgen erwachte sie voller Vorfreude. Es war der erste Tag auf Nangog, an dem ihre Neugier größer als ihre Furcht war.
Nandalee blieb mürrisch und wortkarg. Bidayn schob es auf die üblichen Launen ihrer Freundin. Sie hatte längst aufgegeben, Nandalee verstehen zu wollen. Sie wusste, dass sie sich auf Nandalee verlassen konnte, wenn es darauf ankam – und das allein zählte.
An diesem Morgen fiel Bidayn der Marsch leichter. Nachdem Gonvalon so lange mit ihr gesprochen hatte, fühlte sie sich nicht mehr als ein überflüssiges Anhängsel, und so war es an diesem Morgen Nandalee, die den Abschluss ihrer kleinen Gruppe bildete.
Sie waren kaum zwei Stunden gegangen, als sie Spuren der Menschenkinder entdeckten. Eine Feuerstelle, eine aufgegebene Wetterschutzhütte. Gegen Mittag kreuzten sie einen Weg, in dem Baumstämme, die wohl von Pferdegespannen gezogen worden waren, tiefe Schleifspuren hinterlassen hatten. Bald entdeckten sie weite Kahlschläge. Ganze Hänge waren nur noch mit Baumstümpfen und kümmerlichem Buschwerk bedeckt. An vielen Orten war die dünne Erdschicht fortgespült und Fels ragte gleich bleichen Knochen aus dem geschundenen Boden.
Bidayn konnte nicht verstehen, wie man einen Ort, den man sich zum Leben gewählt hatte, so herunterwirtschaften konnte. Sie würden diese Berge in eine karge Steinwüste verwandeln, wenn sie so weitermachten. Sahen sie das denn nicht? Oder schlimmer noch, war es ihnen egal? Würden sie einfach weiterziehen, wie ein Schwarm Heuschrecken, der ein Feld kahl gefressen hatte? War dies das Schicksal, das Nangog drohte? Und dann Albenmark?
Gonvalon entschied, dass sie dem Weg weiterfolgten. Bald entdeckte Bidayn auf einem Felsen eine plumpe Ritzzeichnung, die eine geflügelte Gestalt zeigte. Darunter lagen Scherben von zerbrochenen Gefäßen. Eine Göttin? Waren nutzlose Gefäße ein Geschenk für Götter? Obwohl die Zerstörungen der Landschaft sie zutiefst aufwühlten und gegen die Menschen einnahmen, fieberte sie doch dem Augenblick entgegen, in dem sie zum ersten Mal lebenden Menschenkindern begegnen würde.
Etwa eine Meile weiter fanden sie den Weg durch einen Steinschlag blockiert. Vorsichtig kletterten sie über die Felsbrocken hinweg, die bedrohlich unter ihren Füßen knirschten. Es war bei dieser Gelegenheit, dass Bidayn die weißen Ascheflocken bemerkte. Es waren nicht viele. Wie Schnee tanzten sie im Sonnenlicht. Am Horizont stieg immer noch Rauch auf und wies ihnen den Weg zu ihrem Ziel.