Der Duft von Gebratenem stieg Bidayn mit dem Wind in die Nase. Wie Schwein roch es! Als sie eine scharfe Wegkehre hinter sich ließen, entdeckten sie die erste Siedlung. Häuser aus Bruchstein mit graubraunem Lehmverputz, die Dächer aus schweren Balken zum Teil eingestürzt. Die wenigen Menschenkinder umringten ein großes Feuer. Einen Scheiterhaufen aus halb verkohlten Balken und armdicken Ästen. Sie schienen ihre Toten zu verbrennen. Alles hier wirkte schmutzig und heruntergekommen. Selbst Kobolde waren reinlicher als die Menschenkinder.
Die Trauernden schenkten ihnen kaum Beachtung, als sie vorüberkamen. Die Menschenkinder waren hager, ihre Gesichter abgehärmt und mit Ruß verschmiert. Sie trugen einfache Kleidung in Erdfarben. Oft geflickt. Bidayn war überrascht, in der Menge keine Frauen und Kinder zu sehen. Hatte man sie versteckt? Durften sie der Totenzeremonie nicht beiwohnen?
Dichter, öliger Rauch stieg auf und wurde vom Wind über die niedrigen Häuser hinweg gegen die Bergflanke gedrückt. Der Geruch von schmorendem Fleisch verursachte Bidayn nun, da sie wusste, was dort im Feuer lag, Übelkeit. Sie atmete nur noch flach durch den Mund und beschleunigte ihre Schritte. Nandalee hingegen sah sich alles sehr genau an. Erst als Gonvalon sie rief, folgte sie ihnen widerwillig. Hätte sie Nandalee nicht besser gekannt, Bidayn hätte gedacht, dass sie am Leid der Menschenkinder Gefallen fand.
In der Bergflanke oberhalb der Siedlung klaffte ein großes Loch. Überall ringsherum lag Geröll. Ein Stapel grob behauener Balken war durch einen Steinschlag fast verschüttet. Wie viel Mut es wohl erforderte, sich in den Berg zu graben und das Wissen zu ertragen, welch ungeheure Masse Stein über einem aufragte? Ob es auch Tote im Berg gegeben hatte? Sie wirkten erbärmlich, die Menschenkinder, und nicht bedrohlich. Alles, was Bidayn entdecken konnte, war unvollkommen. Nichts war auf Dauer angelegt. Die Mauern der Häuser schlecht gefügt, die Kleidung hässlich – ja, die Menschen schienen sich nicht einmal zu waschen oder ihre Haare zu kämmen. Was trieb sie an? Was bedeutete ihnen etwas? Wofür taten sie all das hier? Bidayn konnte sich nicht vorstellen, dass es ihnen völlig egal war, wie sie aussahen und lebten. War Schönheit ihnen denn gar kein Bedürfnis?
Noch als sie wieder die Passstraße hinaufstiegen, blickte die Elfe wieder zurück zu den ärmlichen Häusern und der Gruppe, die reglos um den Scheiterhaufen stand. Die Menschen waren ihr ein Rätsel. Auf Bidayn wirkten sie nicht bedrohlich, sondern völlig abgestumpft.
Die Gefährten durchquerten noch weitere Minendörfer, die unterschiedlich schwer vom Beben betroffen waren. Bidayn wollte den Menschen helfen, doch beharrte Gonvalon darauf, dass sie sich auf keinen Fall einmischten. Er erinnerte sie an das Große Haus, die strenge Unterteilung in Stände, die es den Menschenkindern versagte, sich untereinander zu helfen. Kein Wissender hätte sich je dazu herabgelassen, einen Schaffenden anzufassen oder gar einen Unberührbaren aus dem niedersten Stand der Bettler, des fahrenden Volks und anderer nicht Sesshafter. Bidayn fügte sich, aber es brach ihr das Herz.
Die Straße, der sie durch die Berge folgten, war inzwischen belebter. Sie passierten eine Maultierkarawane, die Brennholz, schwere Fässer und Säcke transportierte. Bidayn bemerkte, dass sie angestarrt wurden. Etwas mit ihrer Verkleidung schien grundlegend nicht in Ordnung zu sein. Die Vorstellung, dass einer dieser ungewaschenen und wahrscheinlich auch noch verlausten Kerle sie berühren könnte, erfüllte sie mit blankem Entsetzen. Wo waren die Frauen? Nirgends auf den Straßen oder Feldern hatte sie eine gesehen.
Einmal hörte sie zwei Haarige miteinander tuscheln. Sie erkannte einzelne Worte, vermochte aber dem Sinn nicht zu folgen. Die beiden schienen sich über leckere Schnecken zu unterhalten. Merkwürdig!
Besonders unangenehm war es Bidayn, wie man ihr nachblickte. Manche der Männer vermochten ihre Lüsternheit kaum zu verbergen. Einer zeigte ihr seine Faust und bewegte dabei seinen Daumen auf obszöne Weise zwischen Zeigefinger und Mittelfinger.
Bidayn wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie wurde rot und schaute weg. Obwohl die Männer Nandalee ebenso hinterherstarrten wie ihr, erlaubte sich bei ihrer Freundin niemand solche Frechheiten. Kannten diese haarigen Ungeheuer denn kein Benehmen? Sie stellte sich vor, wie sich einer von ihnen an Nandalee heranmachte. Sie musste schmunzeln. Der Kerl, der so dumm wäre, nach ihrer Freundin zu grapschen, würde vermutlich die größte Überraschung seines Lebens erleben.
Plötzlich fühlte sie sich einsam. Nandalee hatte den ganzen Tag noch kein Wort mit ihr gesprochen. Was war nur mit ihr los? Bidayn konnte ihr ansehen, dass sie niemanden in ihrer Nähe haben wollte. Sie wirkte kalt und abweisend. Verändert … Nun waren es nicht mehr allein die Bäume oder Tiere – jetzt war es Nandalee, die sie unverwandt anzusehen schien. Und Bidayn konnte sich auch vorstellen, warum. Bestimmt hatte ihre Freundin gesehen, wie Gonvalon sie in den Arm genommen hatte. Sie mussten reden … Aber nicht jetzt. Am Abend vielleicht. Bidayn schluckte trocken. Sie dachte an Sayn. Es war nicht klug, Nandalee zu verärgern. Beherzt beschleunigte sie ihre Schritte und hielt sich nun dicht an Gonvalons Seite. Bei dem Schwertmeister fühlte sie sich sicherer.
Es war später Nachmittag, als die gewundene Bergstraße sie endlich an das Ziel ihrer Reise führte – die Stadt der Menschenkinder. Nie zuvor hatte Bidayn einen solchen Ort gesehen oder auch nur davon gehört, und der Anblick erfüllte sie gleichermaßen mit Staunen und Schrecken. Sie hatte den Gestank der Menschensiedlung – eine Mischung aus Rauch und Fäkalien – seit einer Weile riechen können, doch nun blickte Bidayn von der letzten Hügelkuppe aus auf ein weites Flusstal und eine Welt, die sich der Schöpfung entfremdet hatte. Die tiefer gelegenen Hänge des Tals waren terrassiert worden. Scheibe auf Scheibe schoben sie sich übereinander. Mauern aus Bruchstein fassten die Ränder ein. Zum Fluss hin standen alle Felder unter Wasser. Zarte Schösslinge erhoben sich aus dem gelbbraunen Nass. Weiter oben wurde Gemüse angebaut und Obstgärten waren angelegt. Ein Labyrinth steiler Treppen führte zwischen den Feldern hindurch. Riesige, hölzerne Räder hoben Wasser aus dem Fluss den Hang hinauf. Es wurde in großen Becken gesammelt, von denen gemauerte Rinnen zu den Feldern und Gärten verliefen. Noch weiter den Hang hinauf schmiegten sich Häuser an den Fels. Dicht ineinander verschachtelt, ohne eine erkennbare Ordnung. Über etliche der Dächer erhoben sich Masten, von denen Fahnen wehten. Manche Häuser waren von einer steilen Kuppel gekrönt. Von Ferne sahen sie aus, als stecke ein riesiges Ei in einem Mauergeviert.
Höhlen wie klaffende Mäuler öffneten sich im graubraunen Fels. Manche waren von Reliefs flankiert, die häufig eine geflügelte Frau zeigten, der neben den Flügeln Waffen aus dem Rücken zu sprießen schienen. Nahe den Höhlen hatten die Menschenkinder Rampen in den Fels geschlagen, die die Hänge hinab zu großen Halden aus Abraum führten.
Nahe der Abraumhalden ragten rußgeschwärzte Kamine dicht an dicht auf wie steinerne Wälder. Sie spien ihren dunklen Odem in das Tal, und der Rauch zog wie ein Schleier dahin. Besonders seltsam erschienen Bidayn mächtige Türme, aus deren oberen Geschossen dicke Rundhölzer sprossen wie Stacheln aus Kakteen. Welchen Zweck die Türme wohl erfüllten, vermochte sie sich nicht zu erklären. Alles hier war unerklärlich und fremd! Warum hatten die Menschen das getan? Warum hatten die Menschen diesem Ort seine ursprüngliche Gestalt geraubt? Sogar der Fluss am Talgrund war mit Mauern eingefasst. Mehrere große Staubecken, aus denen die Wasserräder schöpften, hatten das ursprüngliche Flussbett ersetzt. Bidayn nahm an, dass es sich wohl um einen Seitenarm des Stroms handelte, dem sie auf ihrer Reise so lange gefolgt waren. Weit entfernt konnte sie einen ungebändigten, weiß schäumenden Wildbach erkennen, der aus den Bergen hinabschoss. Jenseits der Staubecken war davon nur ein kümmerliches Rinnsal geblieben, in das offene Kanäle den Unrat der Stadt erbrachen.