Die Menschenkinder hatten Nangog steinerne Fesseln angelegt, dachte Bidayn. Doch die Welt hatte sich dagegen aufgebäumt. Das Erdbeben hatte Schneisen der Verwüstung in die von den Menschenkindern nach ihren Wünschen geordnete Natur geschlagen. Einige der Terrassenfelder waren abgerutscht. Dicht bei einem umgestürzten Wasserrad, das einige kleinere Gebäude unter sich begraben hatte, war der Hang auf einer Breite von mehr als hundert Schritt ein Durcheinander entwurzelter Bäume, gesplitterter Stämme und zerschmetterter Kronen. Dutzende Häuser waren an den höher gelegenen Hängen in sich zusammengebrochen oder gar in die Tiefe gestürzt, wobei sie alles, was unter ihnen lag, unter Lawinen aus Bruchstein und Balken mit sich fortgerissen hatten. Steinerne Zungen der Verwüstung leckten die Hänge hinab. Der Gestank von verbranntem Fleisch hing auch hier in der Luft. Dort, wo die Häuser am dichtesten beisammenstanden, wüteten noch immer Brände. Flammensäulen erhoben sich aus eingesunkenen Dächern und beständig rieselte Asche vom Himmel. Selbst dort, wo die Brände erstickt waren, stieg immer noch Rauch aus den Ruinen.
Überall sah Bidayn Flüchtlinge. Manche hatten sogar inmitten der überfluteten Felder Zuflucht gesucht. Schreie, der Klang von Hörnern und das Kläffen herrenloser Hunde brandeten aus dem Tal herauf. Ein Lärm, ebenso überwältigend und unerfreulich wie der Gestank, den die Menschen verbreiteten. Sie hatte noch mit keinem von ihnen gesprochen und doch verachtete sie die Menschenkinder und ihr Treiben bereits aus tiefstem Herzen. Dem, was hier geschah, musste Einhalt geboten werden. Sie hatten genug gesehen! Wenn es nach ihr ginge, könnten sie nach Albenmark heimkehren.
»In dem Durcheinander werden wir nicht auffallen«, sagte Gonvalon, den der Anblick des Tals nicht weiter zu berühren schien, und stieg den Weg zur Stadt hinab. Auch in Nandalees Zügen spiegelte sich keine Regung – weder Mitleid noch Abscheu. Sie blieb unnahbar.
»Ich finde, wir haben hier nichts verloren«, flüsterte Bidayn.
»Hierherzukommen ist, als würde man mit voller Absicht in einen Haufen Scheiße treten«, entgegnete Nandalee. Ihre Linke lag dabei auf dem Griff des langen Jagdmessers, das von ihrem Umhang nur halb verborgen wurde. In der Rechten hielt sie ihren Bogen, auf den keine Sehne aufgezogen war. Sie hatte Stofffetzen um die Nocken an den Bogenenden gewickelt, sodass die Waffe wie ein eigenwilliger Wanderstab aussah. Bidayn beneidete ihre Freundin um deren kriegerische Ausstrahlung. Nandalee sah gefährlich aus und zugleich attraktiv. Das lange, blonde Haar floss offen über ihren Umhang und die spitzen Ohren, die sie so deutlich von den Menschenkindern unterschieden, waren unter einem breiten, mit bunten Mustern bestickten Stirnband verborgen. Sie wirkte wie jemand, der sich vor nichts fürchtete. Plötzlich musste Bidayn lächeln. Sie erinnerte sich an etwas, das der Schwebende Meister ihr einmal erzählt hatte: Ein Mangel an Furcht zeugt lediglich von einem Mangel an Phantasie. Es ist die Furcht, die einen in der Gefahr wach und am Leben erhält.
Außerhalb der Stadt lagen Hunderte von Verletzten auf Feldern und Abraumhalden, die man aus der unmittelbaren Umgebung der einsturzgefährdeten Häuser geschafft hatte. Eine alte, zahnlose Frau zog an Bidayns Arm und deutete wimmernd auf ein verletztes Mädchen mit blutverschmiertem Gesicht. Bidayn verstand kein einziges Wort, doch das Flehen in ihren Augen und die Gebärden der Alten waren unmissverständlich.
Gonvalon fuhr sie in einer kehligen Sprache an, und die Frau zog sich erschrocken zurück. Bidayn ballte ihre Fäuste. Sie sah zu dem Mädchen. Sie hätte ihr helfen können! Selbst ohne Magie. So vielen hier ringsherum könnte sie helfen! Sie mochte die Menschenkinder nicht, aber das war noch lange kein Grund, einfach zuzusehen, wie sie verreckten! Vergeblich versuchte sie, sich gegen das Elend zu verschließen. Sich so hart zu machen, wie ihre Gefährten waren, aber es wollte ihr nicht gelingen.
»Wir dürfen nicht auffallen«, sagte Gonvalon. »Das hier sind Unberührbare. Nur ihresgleichen darf sich um sie kümmern. Wenn wir uns hier aufhalten, dann …« Er zuckte mit den Schultern. »Dann wird uns das nicht gut bekommen. Wir sinken auf ihren Stand hinab, wenn wir ihnen helfen.«
»Und was sind wir?«, fragte Bidayn gereizt.
»Fremde. Leute, denen man misstraut, die aber noch über den rechtlosen Unberührbaren stehen. Wir dürfen nicht Partei ergreifen. Die Gesellschaft der Luwier ist zu … undurchsichtig und ungerecht. Zurückhaltung ist das Gebot der Stunde!«
Ein Stück entfernt sah Bidayn, wie Verletzte von einer Gruppe von Männern von der Straße geprügelt wurden. Wie konnte man nur so grausam zu seinesgleichen sein, dachte sie. Sie würde niemals eine Waffe gegen einen Elfen erheben. Niemals! Das war vielleicht der größte Unterschied zwischen Menschenkindern und Elfen.
Widerstand
Er liebte Nangog. Frei durch die Wälder zu wandern. Seine Brüder und Schwestern zu vergessen. Das Spiel um die Macht. Er hielt nicht viel davon, was ihn in den Augen mancher suspekt erscheinen ließ. Der Ebermann lachte. Es war ein rauer, kehliger Laut. Er lebte. Mittags hatte er ein Wildschwein gerissen. Die Reste lagen noch auf der Lichtung verstreut. Es war ein starker Eber gewesen. Er hatte sich zum Kampf gestellt. Ein gutes Mahl!
Der Devanthar hätte nicht essen müssen. Er stand über solchen banalen Dingen. Aber im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern liebte er es, darin zu schwelgen. Sich in der Welt zu suhlen!
Er saß mit dem Rücken an einem Fels gelehnt und lauschte auf das Rauschen des nahen Flusses. Am Rand der Lichtung schnürte ein Fuchs entlang. Er hielt etwas in der Schnauze. Eine Maus? Nein, es war heller … Ein Finger!
Neugierig erhob sich der Devanthar. Er würde dem kleinen Jäger seine Beute nicht streitig machen. Aber er wollte wissen, woher er kam.
Ohne Mühe folgte er der Fährte des Fuchses. Etwas stimmte allerdings nicht. Da war kein Geruch von Blut oder Aas!
Die Fährte führte den Devanthar zum Fluss, und bald entdeckte er Spuren von Menschen. Sie hatten mit Kreide Bäume markiert. Verschlungene, unleserliche Zeichen. Er entdeckte ein großes Pferd zwischen den Bäumen, das eilig die Flucht ergriff, als es ihn bemerkte.
Dann erreichte er die Rodung. Sie lag dicht beim Flussufer. Mehrere Kohlenmeiler waren errichtet worden. Stämme, die zur nächsten Stadt geflößt werden sollten, lagen im Uferkies. Es war totenstill.
Ein Stück entfernt sah er einen Mann, der regungslos an einem Baum hockte. Feine Äste waren in seinen Rücken eingedrungen. Der Baum hatte sein Blut getrunken!
Überrascht blickte der Ebermann hinauf zur Krone. Er konnte die Magie spüren, die hier gewirkt hatte. Die Grünen Geister. Der Baum war besessen gewesen, so wie die anderen ringsherum auch. Nangog begann sich gegen die Menschen zu wehren. Die Geister ließen es nicht mehr dabei bewenden, den Menschen Angst zu machen. Sie hatten einen Weg gefunden zu kämpfen, obwohl sie körperlos waren. Faszinierend!
Wohin das wohl führen würde? Der Ebermann glaubte nicht, dass sie letztendlich siegen konnten. Nangog hatte sich noch nie wirklich wehren können. Er dachte an das Strafgericht. An das Schicksal Nangogs. Ein Zeitalter war seitdem vergangen. Dass die Neue Welt plötzlich Widerstand leistete, würde es interessanter machen. Menschen gab es ohne Zahl. Wenn ein paar Tausend von ihnen hier verreckten, spielte das keine Rolle.
Er bemerkte die Spuren beim Stamm. Jemand war also schon vor ihm hier gewesen. Neugierig sah er sich im Lager um. Am auffälligsten waren die Spuren der Holzfäller und Köhler. Doch nach dem Unglück waren noch drei Besucher gekommen. Auch sie hatten die Leichen betrachtet. Zwei von ihnen bewegten sich so geschickt, dass ihre Fährten kaum zu entdecken waren. Die dritte Spur aber war sehr deutlich. Zwei Jäger, dachte er. Aber wen hatten sie mitgenommen? Und was noch ungewöhnlicher war, sie hatten die Leichen weder bestattet noch ausgeplündert! Etwas stimmte hier nicht. Es wäre leicht gewesen, einen der Kohlenmeiler als Scheiterhaufen zu nutzen. Üblicherweise bestatteten Menschen ihre Toten. Sogar ihre toten Feinde! Natürlich gab es auch Menschen, die sich um die Totenbräuche nicht scherten. Aber hätten die nicht jede Tasche aufgeschnitten und die Leichen beraubt? Allein das Werkzeug, das hier herumlag, war ein kleines Vermögen wert. Und dann noch die Arbeitspferde … Das passte alles nicht zusammen.