Er war einem Rätsel auf die Spur gekommen, dachte er erfreut. Und er würde es lösen. Ohne Mühe fand er die Spur, die aus dem Lager führte. Er begann zu laufen. Er war ungeduldig, das gehörte zu seinen Charakterschwächen. Und er brannte darauf, sich diese seltsamen Jäger anzusehen. Sie verhielten sich ganz und gar nicht menschlich! Ob es den Grünen Geistern gelungen war, von menschlichen Körpern Besitz zu ergreifen? Bisher waren sie bei diesen Versuchen stets gescheitert. Sollte es ihnen nun doch gelingen, dann wäre das eine ärgerliche neue Entwicklung.
Besessen
Nandalee horchte in sich hinein. Ununterbrochen. Sie war vollkommen in sich gekehrt und bemerkte kaum, wenn ihre Gefährten sie ansprachen. Dieser leuchtende grüne Nebel war in ihr. Sie war besessen! Sie hatte keine Ahnung, was mit ihr geschehen würde. Und sie hatte Angst, es ihren Gefährten zu sagen. Verzweifelt brütete sie darüber, wie sie diesen Geist oder was immer es war, wieder loswerden konnte.
Es war nicht in ihren Gedanken. Es teilte ihr nichts mit. Manchmal aber drehte sie den Kopf, obwohl sie es nicht wollte, oder sie heftete den Blick auf Dinge, denen sie sonst keine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Gerade eben starrte sie auf einen Stein am Wegrand, auf den eine formlose, halb verwaschene Kontur mit grüner Kreide gemalt war. Einige Reiskörner lagen um den Stein verstreut. Was war daran so interessant?
Jeden Augenblick fürchtete Nandalee, dass ihre Gefährten etwas bemerkten. Was würden sie mit ihr tun? Sie konnte es sich nicht vorstellen, aber wahrscheinlich würden sie sie nicht mit zurück nach Albenmark nehmen. Nein, sie konnte sich ihnen nicht offenbaren. Aber durfte sie zulassen, dass dieses Ding durch sie nach Albenmark gelangte? Nichts von allem, was sie gelernt hatte, hatte sie auf so etwas vorbereitet. Hatte der Dunkle gewusst, was geschehen würde? War sie deshalb für diese Mission ausgewählt worden? Schüler schickte man nicht auf eine Mission. Weder Bidayn noch sie sollten hier sein. Es waren die Meister, die in Diensten der Himmelsschlangen standen!
Was, so fragte sie sich, ging auf dieser Welt vor sich? Das Ausmaß der Verwüstung durch die Menschen schockierte sie und der Grüne Geist schien zu wollen, dass sie sich alles ganz genau ansah. Er zwang sie dazu, ließ ihren Blick länger verweilen, als sie es wollte. Bidayn hatte etwas gemerkt. Sie drehte sich immer wieder nach ihr um, und dass ihre Freundin mit ihr reden wollte, konnte sie spüren. Gonvalon hingegen war kühl. Gestern Nacht am Lagerfeuer war sie nicht sie selbst gewesen. Sie hatte zurückkommen müssen, damit die beiden nicht in den Wald kamen, um nach ihr zu suchen, aber am liebsten hätte sie sich ganz in sich selbst verkrochen. Sehnsüchtig sah sie Gonvalon nach. Sie wollte nicht kalt zu ihm sein. Sie vermisste ihn. Seine flüchtigen Berührungen. Die verstohlenen Blicke. Manchmal, wenn Bidayn sie nicht hatte sehen können, hatten sie sich am Anfang der Reise geküsst. Auch das wagte Nandalee nicht mehr. Könnte dieses grüne Licht bei einem leidenschaftlichen Kuss in den Körper des Schwertmeisters gelangen? Gonvalon war ihre Zurückhaltung aufgefallen. Am Morgen hatte er versucht, sie auf ihre Zurückhaltung hin anzusprechen, doch sie war schroff und abweisend gewesen. Seitdem wich er ihr aus. Ihr zerriss es schier das Herz, wenn sie ihn sah. Sie sehnte sich so sehr nach ihm. Aber sie durfte ihn nicht in Gefahr bringen. Er hatte schon zu viel um ihretwillen erduldet. Wenn sie dieses Ding nicht loswurde, durfte sie nicht in ihre Heimat zurückkehren! Ob sie sich hier in dieser schmutzigen Stadt von ihren Gefährten trennen sollte? Dann würde sie Gonvalon nie mehr wiedersehen. Nein, dachte sie, vielleicht gab es ja noch Hoffnung. Bisher war die Kreatur in ihr friedlich. Aber Nandalee war sich darüber im Klaren, in welchem Ausmaß sie nicht mehr Herrin ihrer selbst war. Das Wesen könnte sie zwingen, ihr Jagdmesser zu ziehen und Bidayn niederzustechen. Auf der anderen Seite …
Die Elfe fluchte leise. Es gab keinen Ausweg!
Gegen ihren Willen beschleunigte sie ihre Schritte. Sie drängte sich zwischen zwei stinkenden Menschenkindern hindurch. Sie stanken nach Kot und Urin. Nach Angstschweiß, Rauch und altem Fett, nach gebratenen Zwiebeln und billigem, saurem Wein. Wie verkümmert musste ihr Geruchssinn sein, dass sie es aushalten konnten, so dicht beieinander zu leben?
Nandalee hasste diese Stadt. Sie war zutiefst widernatürlich. Natur gab es hier nicht mehr. Alles hatten die Menschenkinder in Fesseln geschlagen. Sie konnten sich nicht anpassen. Wo sie hinkamen, machten sie sich die Welt untertan. Der Dunkle hatte recht – man musste die Menschen ausspähen und etwas gegen sie unternehmen. Schon Nangog war ihnen verboten gewesen. Wie lange würde es dauern, bis sie auch nach Albenmark kamen? Nein, es war besser, man bekämpfte sie gleich hier.
Sie stieß einem blau gewandeten, fetten Kerl, der ihr im Gedränge zu nahe kam, den Ellenbogen in die Seite. Weit heftiger, als es nötig gewesen wäre, um ihn zum Ausweichen zu bewegen. Der Mann keuchte auf. Er fluchte in seiner kehligen, unverständlichen Sprache.
Nandalee ging einfach weiter, als sie plötzlich bei ihrem Umhang gepackt und zurückgerissen wurde. Fast wäre sie gestrauchelt und im Dreck der Straße gelandet. Sie fuhr herum. Ihre Hand lag jetzt auf dem Griff ihres Dolches.
Der Fettwanst stand vor ihr und schimpfte auf sie ein. Sein mächtiger, fettig schimmernder und penetrant nach Rosenöl stinkender Bart bebte vor Zorn. Ein seltsames großes Amulett hing vor seiner Brust – fast quadratisch und mit Türkisen besetzt. Sein langes, himmelblaues Gewand sah auf lächerliche Weise wie ein Kleid aus und auf der Spitze seiner merkwürdigen hoch aufragenden Mütze aus steifem Stoff steckte ein schwarzer Vogelflügel. Seine Augen hatte der Dicke mit einer schwarzen Paste umrandet, sodass sie größer und bedrohlicher aussahen.
Neben dem Schreihals erschien, wie aus dem Nichts entsprungen, ein hochgewachsener, muskelbepackter Kerl, der einen mit Messingnägeln beschlagenen Knüppel in Händen hielt.
Der Dicke rief etwas mit volltönender Stimme. Ringsherum wichen die Menschenkinder zurück, sodass sich auf der überfüllten Straße plötzlich ein Kreis bildete, in dessen Mitte Nandalee stand. Alle gafften sie jetzt an. Es waren ausnahmslos bärtige Männer unterschiedlichsten Alters. Die meisten schäbig bekleidet. Fast alle trugen irgendwelche Amulette an Lederschnüren um den Hals oder das Handgelenk. Durchbohrte Steine, Federn, Tierpfoten oder rot lackierte Holzscheiben. Wieder erhob der Dicke die Stimme. Er sah Nandalee herablassend an. Speichel sprühte aus seinem Mund, als er auf sie einschrie.
»Knie nieder, sofort«, herrschte Gonvalon sie in ihrer Sprache an. »Was hast du nur getan!« Der Schwertmeister warf sich auf die Knie und verneigte sich so tief, dass seine Stirn fast einen frischen Pferdeapfel berührte. Dabei stieß er laut unverständliches Gebrabbel in der Sprache der Menschen hervor.
»Bevor ich vor dem niederknie, lernen Fische laufen«, murmelte Nandalee. Sie griff nach dem Schwert auf ihrem Rücken, bekam aber nur dünne Äste zu packen. Die Waffe war ebenso wie ihr Köcher in einem großen Reisigbündel versteckt. Gonvalon hatte auf dieser Tarnung bestanden, da die Frauen Luwiens niemals Waffen trugen.
Auch Bidayn warf sich nun unterwürfig in den Schmutz der Straße. Zwischen den Gaffern erschien eine Gruppe Bewaffneter, deren Bronzehelme Kränze aus stehendem Rosshaar krönten. Ihre Rüstungen waren aus Hunderten übereinanderliegenden Metallschuppen gefertigt, sodass sie ein wenig aussahen wie große, goldene Fische auf Beinen.