Nandalee schluckte hart. Sie blickte in das Antlitz des Fettwanstes. Überdeutlich sah sie jede Pore seiner Haut, die leicht verlaufene Schminke unter den Augen und die kürzeren grauen Haare in seinem Bart, die verrieten, dass er diese Boten des Alters verschwinden ließ, wenn ihm Zeit dazu blieb – und dann sank Nandalee in die Knie. Gegen ihren Willen! Sie hatte sich noch nie unterworfen – nie! Aber es war nicht sie, die niederkniete. Sie kämpfte dagegen an. Vor Wut schossen ihr Tränen in die Augen, aber sie vermochte nicht zu verhindern, dass sie sich ebenso tief verneigte wie Gonvalon. Sie kroch auf den türkis gewandeten Mann zu und küsste ihm die stinkenden Sandalen. Immer noch sah sie jede Einzelheit unnatürlich deutlich. Verschmierter Ruß, Schlamm und rotbraunen Kot. Das Leder der Sandalen war rau. Sie schmeckte den Unrat auf ihren Lippen und ihre Zunge begann Worte zu formen, die ihrem Verstand fremd waren.
Gezeichnete
Gonvalon traute seinen Ohren nicht. Nandalee sprach Luwisch! So gut, als sei sie mit der Sprache aufgewachsen. Wortreich entschuldigte sie sich für ihr Ungeschick und lobte den Wissenden, der offenbar ein hochrangiger Priester war.
Auf dem Boden liegend, konnte Gonvalon das Mienenspiel des Mannes kaum erkennen. Der Kerl hob den Fuß! Gonvalon spannte sich an. Er hörte das leise Klirren der Rüstungsträger und überlegte, wen er zuerst angreifen würde und auf welchem Wege sie am besten entkommen konnten. Wenn der Dicke Nandalee trat, war alles vorbei. Das würde ihr Stolz nicht dulden.
Der Priester setzte seinen Fuß auf Nandalees Nacken und drückte ihr Gesicht in den Schlamm der Straße. So verharrte er einige Herzschläge lang.
»Fremde!«, stieß er schließlich laut hervor. »Sie werden aus dem Dreck der Straße geboren und dort verbringen sie ihr Leben. « Einige der Umstehenden lachten hämisch. »Zuru, bring sie dorthin, wo Fremde hingehören, und sorge dafür, dass man künftig sofort erkennt, was sie sind!« Mit diesen Worten wandte sich der Priester ab.
Gonvalon richtete sich auf und klopfte sich, so gut es ging, den Schlamm von den Kleidern. Bidayn blickte ängstlich zu ihm auf, Nandalee hingegen schien geradezu unnatürlich ruhig. Sie öffnete ihren Wasserschlauch und reinigte ihr Gesicht. Dabei starrte sie zu Boden.
Die Menge rings herum begann sich zu zerstreuen. Einige der Krieger trieben sie mit ihren Speerschäften an.
»Woher kommen du und diese Weiber?«
»Garagum«, stieß Gonvalon hervor. Er schnitt eine Grimasse. »Entschuldigt meinen Akzent, Herr.«
Der Hauptmann musterte ihn eindringlich. Ein breiter goldener Armreif mit einem großen Türkis verriet, dass er sich im Kampf ausgezeichnet hatte. »Ihr tragt viele Waffen«, stellte der Krieger nüchtern fest. »Und ihr habt ungewöhnlich viele Weiber. Hier kommt eine Frau auf hundert Männer. Nur Fürsten nennen hier zwei Weiber ihr Eigen. Bist du vielleicht ein Fürst in Garagum?«
Gonvalon überlegte kurz, ob er die Gelegenheit nutzen sollte, sich zu befördern. Aber vielleicht waren die Fürsten Garagums namentlich bekannt oder sie waren inzwischen alle ermordet und durch Luwier ersetzt. Er wusste einfach zu wenig über die Menschenkinder, um sich dreiste Lügen erlauben zu können. »Ich stehe in meiner Heimat einem Dorf vor. Und dies sind nicht meine Weiber, sondern meine Töchter. Als ich zur Reise in die Neue Welt berufen wurde, entschied ich, meine Töchter mit mir zu nehmen, damit niemand ausnutzt, dass sie nicht mehr unter der Obhut des Familienoberhaupts stehen.«
Der Krieger lächelte breit. Seine oberen Schneidezähne fehlten. Fauliger Atem drang aus seinem Mund. »Bei der geflügelten Herrin, da warst du schlecht beraten, Mann.« Lächelnd sah er zu Nandalee und Bidayn. »Sie sind ein bisschen dünn, deine Mädchen. Du lässt sie zu viel durch die Berge laufen. Und sie sehen sehr verschieden aus.« Das Lächeln verschwand. »Was habt ihr da draußen in der Wildnis eigentlich gesucht?«
»Gold, Erhabener. In meiner Heimat bin ich bekannt für mein Geschick Gold zu finden.«
Die Augen des Hauptmanns verengten sich ein wenig. »Und, habt ihr welches gefunden?«
Gonvalon klopfte auf den schweren Lederbeutel an seinem Gürtel. »Ja. Wir entdeckten einen Ort, an dem man Goldbrocken in einem Flusslauf findet. Fast so groß wie Taubeneier.«
»Groß wie Taubeneier … Ist das weit fort?« Der Hauptmann schenkte ihm jetzt ein kameradschaftlich verschwörerisches Lächeln.
»Nein«, entgegnete er knapp. »Aber ich darf dir nicht verraten, wo es ist, Erhabener. Das darf ich nur dem Hüter der Feuer sagen. Mir ist befohlen, wenn ich einen lohnenden Goldfund mache, sofort heimzukehren.«
Der Krieger blickte auf den Lederbeutel an Gonvalons Gürtel. Dann schüttelte er den Kopf. »Entweder bist du unglaublich gerissen oder unglaublich dumm. Ich fürchte fast, Letzteres. Auf jeden Fall bist du ein Glückskind, Fremder. Mit zwei Frauen und einem Beutel voller Gold hierherzukommen … Wenn du meinen Rat hören willst – du solltest nicht so offen reden. Und deine Mädchen solltest du so verkleiden, dass man ihnen nicht ansieht, was sie sind. Komm mit mir. Ich werde dir helfen. Vielleicht verlierst du ja als Dank eines deiner Taubeneier, wenn ich in der Nähe bin.«
Gonvalon folgte dem Hauptmann durch die verwüstete Stadt. Sie wurden von drei Bewaffneten begleitet, die keinen Hehl daraus machten, dass es eigentlich unter ihrer Würde lag, Fremde zu eskortieren. Dem Elfen entging nicht, wie viele feindselige Blicke ihnen folgten. Auf allen großen Plätzen, die sie passierten, schwelten Scheiterhaufen. Überall sah man Verletzte. Es war bedrückend, kaum eine Frau in dem Menschengewühl auf den Straßen zu sehen. Und nie ein Kind! In einer engen Seitengasse entdeckte er über ein Dutzend Gehenkte, die man an einem der Balken aufgeknüpft hatte, mit denen sich die windschiefen Häuser gegenseitig abstützten. Große, rot lackierte Holzscheiben hingen den Toten über der Brust. Es sah aus, als seien sie noch nicht sehr lange tot. Eine junge Frau stahl einem von ihnen die eingenässten Stiefel. Der Hauptmann der Wache unternahm nichts dagegen.
Hauptmann Zuru bemerkte seinen Blick. »Es wäre doch eine Schande zu warten, bis der Leichengeruch in das Leder eingezogen ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Wir bemühen uns, die Fremden zu beschützen. Manche von ihnen sind ja wahrlich wertvoll. Es war klug von dir, dass du das Glutmal abgelegt hast. Allerdings seht ihr auch ohne das Zeichen recht fremd aus. Ein Glück, dass wir dich gefunden haben.«
Gonvalon verstand immer wieder einzelne Worte in der Rede des Kriegers nicht. Zuru redete zu schnell und in einem unvertrauten Dialekt. Meinte der Hauptmann es aufrichtig? Oder war da ein Unterton in seiner Stimme, der nichts Gutes erwarten ließ? Sie sollten sich davonmachen, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot. Bidayn schien verängstigt zu sein, Nandalee jedoch hatte etwas Herausforderndes an sich. Er würde mit ihr reden müssen. Warum hatte sie ihm nicht anvertraut, dass sie die luwische Sprache besser beherrschte als er? Wann hatte sie die Sprache gelernt? Und welche Überraschungen hielt sie noch bereit?
Gonvalon sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Er riss den Arm hoch und fing einen halb verfaulten Apfel im Flug. Das Geschoss hätte ihn an der Schläfe getroffen. Auf einem Flachdach stand eine Gruppe bärtiger Männer. Zwischen ihnen lagen Tote, die in weiße Tücher eingeschlagen waren. Der Kerl, der den Apfel geworfen hatte, drohte ihm mit der Faust.
»Gottesfrevler!«, rief einer von ihnen mit sich überschlagender Stimme. »Weil wir euch unter uns dulden, werden wir vom Unglück heimgesucht! Ihr seid es, die die bösen Geister anlockt.«
Zuru schob Gonvalon weiter. »Bleibt nicht stehen. Hört nicht auf sie.«
»Seht, wie unsere eigenen Wachen die Frevler schützen und die große Išta erzürnen!«
Andere Stimmen wurden laut. Passanten blieben stehen. Einige bückten sich und sammelten Lehmklumpen und Fäkalien auf.