»Lasst uns ein Strafgericht halten, damit Išta uns wieder gnädig gesonnen ist.«
Zuru drängte sie in eine Gasse. »Los, lauft! Biegt am Ende des Weges nach links ab.«
Ein wahrer Hagel von Geschossen folgte ihnen.
Der Hauptman hetzte sie durch das Labyrinth aus jämmerlichen Hütten. Hinweg über zusammengestürzte Mauern, an Scheiterhaufen vorbei und an unzähligen Trauernden. Sie überquerten einen Geflügelmarkt und erreichten endlich einen großen, von Bogengängen eingefassten Hof. Berge von Waren stapelten sich dort. Kisten und Fässer, Ballen von Fellen aller Art und fast armdicke Eisenbarren, die von rotbraunem Rost überzogen waren.
»Schließt das Tor!«, herrschte Zuru seine Männer an und Gonvalon half ihnen, den schweren Sperrbalken in die Verankerungen an den Torflügeln zu wuchten. Von draußen hörte man aufgebrachtes Geschrei. Bidayn blickte ihn aus angstweiten Augen an. »Hier sind wir sicher, oder? Die werden nicht hier hereinkommen.«
»Zuru hält uns für Diener des Hüters der Feuer, einem der wichtigsten Beamten am Hof des Unsterblichen Muwatta. Er wird uns beschützen.« Er sah Bidayn an, dass sie nur allzu bereit war, jede Lüge zu glauben. Nandalee hingegen war von kalter Selbstsicherheit. Aufmerksam sah sie sich um und Gonvalon tat es ihr gleich. Sie schienen sich in einer Karawanserei zu befinden, doch konnte er weder Tiere noch Ställe entdecken. Am gegenüberliegenden Ende des Hofes erhob sich einer der rätselhaften Türme, aus dessen obersten Geschossen dicke Rundhölzer sprossen. Eine Wendeltreppe führte an der Außenmauer des Turms hinauf. Vereinzelt waren Bilder auf den hellen Putz gemalt, die sich von hier unten nicht deutlich erkennen ließen. Unter einem der Bogengänge erschienen Krieger. Der Tumult hatte sie augenscheinlich überrascht. Sie gürteten ihre Schwerter und schnallten Helme fest, während sie liefen. Zuru trat ihnen entgegen. Offensichtlich kannten sie ihn. Ein hagerer Krieger mit einer Nase wie ein Raubvogelschnabel blieb stehen, während er seine Männer antrieb, die Mauern beim Tor zu besetzen.
Zuru verhandelte lautstark mit dem Befehlshaber der Wachen. Wieder hörte Gonvalon mehrfach das Wort Glutmal. Meinten sie damit die lackierte Holzscheibe? Der Kerl mit der Adlernase musterte sie. Er trug einen kostbaren Bronzekürass und mehrere goldene Armreife. Seine Schwertscheide war mit Türkisen geschmückt. Es war unübersehbar, dass der Krieger besser besoldet wurde als Zuru. Er wirkte feindselig.
Aus den Augenwinkeln sah Gonvalon, wie einige der Wachen mit ihren langen Speeren von den Mauern der Karawanserei hinabstachen. Der Tumult vor den Toren flaute ab.
Endlich endete der Disput und Adlernase nickte. Zuru kehrte zu Gonvalon zurück. »Du wirst zwei kleine Goldsteine abgeben müssen. Einen für mich und einen für den Hauptmann der Wachen auf diesem Hof. Du solltest dich darauf einlassen, Fremder. Mit den Mauern ist hier auch die Ordnung aus den Fugen geraten, wie du gesehen hast. Du und deine Töchter, ihr braucht Schutz. Es wäre klug, das Handelshaus nicht zu verlassen. Man erwartet hier die Ankunft mehrerer Wolkenschiffe. Auf einem von ihnen werdet ihr sicher Platz finden. Sie tragen euch in die Goldene Stadt. Von dort ist es nur noch ein kurzer Weg an den Hof des unsterblichen Muwatta, wo du dem Hüter der Feuer von deinen Funden berichten kannst.« Ein ironisches Lächeln begleitete die Worte Zurus, so als glaube er nicht, dass er in Diensten des Hofes stand.
Gonvalon erwiderte das Lächeln und legte, von seinem Umhang verdeckt, vier kleine Goldbrocken auf den Deckel eines nahe stehenden Fasses. Ihm war klar, dass man sie beide beobachtete und es die seltsamen Gebräuche der Luwier nicht gestatteten, dass ein Fremder einen Angehörigen vom Stand der Krieger berührte.
Der Menschensohn wirkte überrascht. Dann nickte er und nahm das Gold. »Ich bin davon überzeugt, dass du und deine beiden Töchter eines der wenigen Gastzimmer des Handelshauses bekommen werden.« Mit diesen Worten ging er zum Befehlshaber der Wachen zurück. Gonvalon aber wandte sich an Nandalee. Er hatte nicht vergessen, wie sie mit dem Priester in luwischer Sprache gesprochen hatte. Er dachte an die Warnung des Schwebenden Meisters, der ihm dringend empfohlen hatte, sie bei der ersten Gelegenheit zu töten. Sie steckte voller unbekannter, ungezügelter Kräfte. Sie war eine Gefahr für jeden in ihrer Nähe. Doch obwohl ihm all das nur zu bewusst war, würde er niemals die Hand gegen sie erheben. Jetzt aber fühlte er sich von ihr hintergangen. War sie am Ende vielleicht viel besser über die Ziele dieser Mission unterrichtet als er? Offensichtlich war sie ja besser vorbereitet.
Nachdenklich strich Gonvalon über den Knauf seines Schwertes. Dass er auf Befehl des Dunklen hier war, bedeutete, dass er seinen Meister, den Goldenen, verriet. Drachenelfen dienten immer nur einem Herrn. Manchmal wurden sie verliehen, doch das geschah nur selten. Allein die Entscheidung zu treffen, sich in den Dienst einer anderen Himmelsschlange zu stellen, war ihnen nicht erlaubt. Und doch war er hier, um ihr nahe zu sein. Weil er es nach all den Monden der Trennung nicht hätte ertragen können, sie schon wieder zu verlieren und sie, nur begleitet von Bidayn, auf eine so gefährliche Mission ziehen zu lassen.
»Nandalee, wir haben zu reden!« Kurz blickte er zu Bidayn. »Du bleibst hier!«
Zuru und der Befehlshaber auf diesem Hof tuschelten miteinander und sahen immer wieder zu ihnen herüber. Niemand unternahm Anstalten, sie zu dem versprochenen Zimmer zu bringen, und Gonvalon war bewusst, dass es vernünftig wäre, mit seiner Aussprache bis zur Nacht zu warten – bis sie allein miteinander waren. Aber er war zu wütend. Er musste jetzt mit ihr reden!
»Warum beherrschst du ihre Sprache?«, fuhr er sie auf Elfisch an. Für die Krieger auf dem Hof waren sie einfältige Hinterwäldler aus dem fernen Garagum! Niemand würde sich wundern, wenn man kein Wort von dem verstand, was über ihre Lippen kam.
Nandalee wirkte verlegen und dann plötzlich halsstarrig. »Ich beherrsche nicht nur die Hochsprache Luwiens, ich beherrsche auch noch die Sprache Arams und drei der häufigsten Dialekte, die man in beiden Reichen spricht, denn ich bin schon seit Jahrzehnten gezwungen, diesen Wilden zuzuhören.«
Gonvalon war immer der Überzeugung gewesen, dass er nicht leicht aus der Fassung zu bringen war. Jetzt aber starrte er sie fassungslos an. Nandalees Tonfall ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie ernst meinte, was sie sagte. Nur etwas an ihrer Stimme klang falsch. Ja, fremd.
»Warum seid ihr hier?«, wollte sie wissen.
»Wovon redest du, Nandalee?«
»Was wollt ihr auf Nangog? Dieses Mädchen will es mir nicht verraten. Ich vermag nur einige sehr oberflächliche Gedanken von ihr zu erhaschen. Meistens geht es um Gewalt oder darum, dass sie sich danach sehnt, dich zu küssen. Alles andere bleibt vor mir verborgen. Also sag du mir, weshalb ihr gekommen seid.« Sie sprach mit beängstigender Ernsthaftigkeit.
Nein – sie redete irr! Sie sprach von sich in der dritten Person! Was bei den Alben ging mit ihr vor? Hatte Nangog ihren Verstand verwirrt? »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was du mir gerade sagen willst. Ich …«
»Nangog weiß, dass ihr hier seid. Jede Wurzelspitze weiß es. Die Würmer in der Erde unter deinen Füßen wissen es. Die Mutterbäume. Nur die Menschen sind blind. Sie sehen euch, setzen den Fuß in euren Nacken und wissen doch nicht, wie nahe sie dem Tode sind. Ihr seid Späher und keine Feinde. Doch ist auch ungewiss, ob ihr Freunde seid. Ich bin zu ihr gekommen, um euch einzuladen, Euch zu führen. Ihr müsst sehen. Ihr müsst tief verstehen – und dann wird sich entscheiden, was ihr seid.«
Die Intensität, mit der Nandalee sprach, begann Aufmerksamkeit zu erregen. Einige der Umstehenden starrten sie an – lüstern. Manche auch einfach nur interessiert. Vielleicht war das Elfische auch zu fremd, um als ein seltener Dialekt aus dem fernen Garagum durchzugehen.
»Sie sind alle verderbt«, fuhr Nandalee ungerührt fort. »Alle die du hier siehst. Sie fallen übereinander her, rauben, morden und betrügen. Es dauert Jahre, ihr Temperament zu zügeln. Sie friedlicher zu stimmen. Sie müssen fort von hier! Aber ohne Hilfe vermag die Große Mutter sie nicht abzuschütteln.«