Auf dem Fressplatz lagen riesenhafte Knochen – Rippenbögen von Mammuts, vermutete er. Wie groß war ein Tier, das ein Mammut tragen und dabei noch fliegen konnte? Hornbori hatte einmal gesehen, wie ein Adler ein Lamm auf einer Bergweide geschlagen hatte. Er hatte dieses Bild immerzu vor Augen, wenn er an den Drachen und das Mammut dachte.
»Du kannst gerne zu den anderen in die Grotte gehen«, sagte Galar.
Hornbori hörte diesen Spruch schon zum hundertsten Mal. Ihm war bewusst, dass die beiden gut auf ihn verzichten konnten. Nur leider war es für ihn keine Option, sich zurückzuziehen. Zum einen musste er dabei sein, wenn der Drache getötet wurde, um seinen Teil vom Ruhm an dieser Tat einzufordern. Der zweite Grund allerdings wog noch wesentlich schwerer. Sie waren mit acht Aalen in einem unterirdischen See angelandet. Die Tauchboote hatten die Drachenflitsche, ausreichend Vorräte und jene Träger transportiert, die beim Ausweiden des Drachen helfen würden. Was weder Galar noch Nyr wussten, war, dass einen Tag später eine weitere Flotte aus elf Aalen in der Grotte vor Anker gegangen war. Mit diesen Booten war Sviur eingetroffen, der die Drachenjagd seit mehr als zwei Jahren mit Material und Gold unterstützte. Hornbori war sich bewusst, wie viel Gold Sviur inzwischen in dieses Unternehmen gesteckt hatte. Bei einem letzten Treffen vor der Reise hatte der Werftenbesitzer sehr deutlich gemacht, dass er einen Erfolg erwartete. Wenn sie hier keinen Drachen zur Strecke brachten und Sviur nicht den Hauptteil der Beute bekam, würden sie alle drei in einem Sack mit Steinen auf dem Grund des Sees in der Grotte enden. Galar und Nyr waren völlig weltfremd. Sie hatten keine Ahnung, mit wie harten Bandagen im Spiel um die Macht gekämpft wurde.
Seit dem Überfall einer Weißen Seeschlange in einem der Häfen war die Nachfrage nach neuen Aalen zurückgegangen. Sviur steckte in Schwierigkeiten. Für Schuppen, Knochen, Zähne oder Blut eines großen Drachen, könnte er phantastische Summen verlangen. War diese Expedition ein Fehlschlag, stand auch sein Werftenimperium am Rande des Ruins.
Hornbori seufzte. Es war unnötig, dass Galar und Nyr sich mit solchen Gedanken belasteten. Sie hatten für das Materielle zu wenig Verständnis, auch wenn Galar gerne alle Gaben für seine Werkstatt und Gelder für seine Reisen angenommen hatte.
Immerhin, dachte Hornbori – wenn ihnen die Jagd gelang, würde ihr Erfolg in aller Munde sein. Galar und Nyr waren schon einmal hier gewesen, sie hatten den Eisdrachen – wie sie ihn nannten – beim Fressen beobachtet und ihren ersten Plan mit der Hornisse aufgegeben. Der Eisdrache war größer. Viel größer! Und so hatten sie die Drachenflitsche in einem Windwurf unter einer entwurzelten Fichte aufgebaut, kaum hundertfünfzig Schritt vom Fressplatz entfernt. Der Schussplatz lag günstiger als bei der Hornisse. Der riesige Bolzen würde den Drachen vermutlich durchschlagen – behauptete Nyr.
Wenn der verdammte Drache doch nur endlich erscheinen würde!
Hornbori sah zu Galar hinüber. Der lag inmitten des Durcheinanders abgeknickter Fichtenstämme – ein perfektes Versteck. Durch das dichte Unterholz des Berges waren sie in guter Deckung anmarschiert. Man musste bis an den Waldrand kommen, um den Fressplatz, der ein wenig tiefer am Hang lag, überhaupt zu entdecken.
Galar lag auf einem Lager aus Fichtennadeln, hatte die Hände im Nacken verschränkt und döste. Ihm machte die Warterei scheinbar gar nichts aus. Ja, Hornbori hatte den Verdacht, dass es Galar sogar Spaß machte, ihn zu beobachten. Zu sehen, wie er immer ungeduldiger wurde.
Nyr hingegen beobachtete den Fressplatz. Seine Aufmerksamkeit schien nie nachzulassen. Ihn hatte das Jagdfieber gepackt. Wenn man seinen Worten trauen durfte, hatte niemand je zuvor einen so großen Drachen erlegt.
Hornbori zwang sich zur Ruhe. Er blickte in das Gewirr toter Äste hoch über ihnen, durch das der Himmel wie ein blaues Bleiglasfenster aussah. Ein Bleiglasfenster ohne Drachen.
Stunde um Stunde verstrich. Hornbori nahm sich ein zähes Stück Schinken und kaute es in kleinsten Happen mit der Gründlichkeit eines Rindes zu sämigem Schinkenschleim. Er träumte von dem Bad, das ihn erwartete. Er würde den Geruch nach Wolfskot mit Lavendelwasser bekämpfen. Er hatte auch eine lavendelfarbene Tunika. Vielleicht sollte er sie nach dem Bad anlegen. Noch nie zuvor hatte er daran gedacht, dass Kleidung und Duftnote miteinander harmonieren könnten. Eine aufregende Idee! Vielleicht ging das auch mit Pfirsich? Er hatte ein Lederwams, das fast pfirsichfarben war …
Plötzlich fuhr ein Wind über den Wald. Ein seltsames Geräusch begleitete ihn. Flügelschlagen!
Sofort war Galar auf den Beinen. Hornbori hätte den Schinken am liebsten in die Fichtennadeln gespuckt. Er war nicht wirklich feige, fand er. Sein Problem war, dass er sich so bildhaft vorstellen konnte, wie er besiegt wurde. Wie der Drache ihn mit einer Tatze zu Boden drückte und ihm ein Bein abbiss.
»An die Kurbel, du Traumtänzer!«, herrschte Nyr ihn an. Das Geschütz musste gespannt werden. Um die Spannkraft des Stahlbogens nicht zu verringern, hatte Nyr verboten, die Drachenflitsche während der tagelangen Warterei schussbereit zu halten.
Hornbori eilte an seinen Platz und begann zu kurbeln. Mit leisem Klacken bewegte sich das eiserne Räderwerk der Waffe. Hornbori kurbelte um sein Leben. Nicht nachdenken, befahl er sich immer wieder, nur nicht nachdenken!
Ein Hirsch fiel aus dem Himmel und schlug krachend inmitten der ausgebleichten Knochen auf. Nur einen Augenblick später landete der Drache. Hornbori war überrascht, mit welcher Eleganz das gewaltige Tier sich bewegte. Es wäre eine Freude gewesen, ihn zu beobachten, wäre er nicht so verdammt groß und so verdammt nah gewesen.
Der kleine Metallschlitten, der die Sehne über die Führungsschiene der Drachenflitsche zurückgezogen hatte, rastete mit einem leisen Klicken in seine Arretierung ein.
»Macht Platz!«, zischte der Geschützmeister und legte einen anderthalb Schritt langen Bolzen auf die Führungsschiene. Dann begann er mit zwei kleinen Kurbeln, die Höhen- und Seitenausrichtung des Geschützes vorzunehmen.
»Fast kein Wind«, flüsterte Galar.
Nyr brummte etwas Unverständliches.
Hornbori fühlte sich, als habe er einen kopfgroßen Klumpen Eis verschluckt. Er biss die Zähne zusammen, damit sie nicht klapperten. Wie gebannt starrte er den Drachen an. Das Vieh war zu groß! Sie waren wahnsinnig, sich mit so einer Kreatur anzulegen.
Der Drache war ganz weiß, und seine Vorderbeine erstaunlich klein. Sie erinnerten an Ärmchen, mit Krallenhänden. Aber dieser Kopf …! Bis zu ihrem Versteck konnten sie die Knochen des Hirsches splittern hören, als der Drache seine Beute aufbrach. Jetzt war er ganz Raubtier – er zerrte und warf den Kopf hin und her, bis ein großer Brocken Fleisch aus dem Kadaver riss. Dann legte der Drache den Kopf in den Nacken, um besser schlucken zu können. Überdeutlich sah Hornbori die blutbefleckten Reißzähne. Jeder einzelne war so lang wie ein Schwert. Und wieder überfielen Hornbori seine grässlichen Phantasien – der Drache hetzte ihn über den Berghang. Der Drache spielte mit ihm, wie eine Katze mit einer Maus.
»Jetzt hab ich ihn«, murmelte Nyr. Der Geschützmeister griff nach dem Abzugshebel.
»Wo steckt ihr verdammten Bastarde?«, rief eine allzu vertraute Stimme hinter ihnen im Wald.
Sviur!
Genau in dem Augenblick riss Nyr den Geschützhebel zurück. Zischend schnellte der lange Bolzen davon.
Der weiße Drache hob den Kopf. Der Bolzen traf ihn seitlich – dort, wo der rechte Flügel aus dem Rumpf erwuchs. Hornbori hörte den Aufschlag. Die Wucht des Treffers riss den Drachen herum.
»Was für ein Arschloch ist …«, begann Galar.
»Spannt das Geschütz«, schrie Nyr. »Schnell!«
Der Drache hatte sich von seinem Schock erholt. Er blickte jetzt genau in ihre Richtung!
Der Eisklotz in Hornboris Bauch wuchs binnen weniger Herzschläge zur Größe eines Eisbergs an. »Wir sind tot«, murmelte er, griff aber nach der Kurbel.
»Wo zum Henker seid ihr verdammten Nichtsnutze! Fünf Tage habe ich mir jetzt den Arsch platt gesessen. Ich werde euch an die Weißen Wasserschlangen verfüttern, ihr Betrüger!« Sviur musste irgendwo links von ihnen sein. Vielleicht zehn Schritt entfernt. Durch das Trümmerfeld gesplitterter Stämme im Windbruch konnte er den Drachen wohl nicht sehen.