Das Geräusch verstohlener Schritte ließ ihn herumfahren. Nandalee! Sie hielt den Bogen schussbereit.
»Wie geht es ihr?«, fragte sie, ohne den Blick von den Männern in der Takelage abzuwenden.
»Schlecht.«
»Was können wir tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich … Vielleicht kann dieser Geist in dir uns helfen. Werden die Menschenkinder uns in Ruhe lassen?«
»Das glaube ich nicht. Siehst du den Kerl im Wickelrock mit den grünen Fransen?«
Gonvalon blickte auf. »Was ist mit ihm?«
»Er versucht, sie zu einem neuen Angriff auf uns zu ermuntern. Er redet die ganze Zeit auf sie ein. Soll ich ihn zum Schweigen bringen? Ich habe nur noch drei Pfeile.«
Ein Stück entfernt lag ein toter Bogenschütze auf Deck. »Kannst du nicht einen Bogen der Menschenkinder benutzen?«
Nandalee verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das ist etwa so, als würdest du mich fragen, ob ich statt eines Drachenschwerts einen Faustkeil benutzen wollte. Da gibt es keinen einzigen Pfeil, der gerade fliegt! Das ist so …« Sie stockte. Und als sie weitersprach, klang ihre Stimme verändert. »Wir müssen zum Schiffsbaum! Komm. Sofort! Oder Bidayn wird sterben.«
Gonvalon dachte an das Holzfällerlager, das sie zu Beginn ihrer Reise entdeckt hatten. Die Grünen Geister Nangogs und die Bäume dieser Welt schienen einen unheilvollen Bund geschlossen zu haben. Doch welche Wahl blieb ihm schon? Hier sitzen, mit Bidayn im Arm, die langsam verblutete? Nach dem, was sie bei den Holzfällern gesehen hatte, hatte sich Bidayn vor den Bäumen zu Tode gefürchtet. Wie konnte er sie da jetzt zu einem Baum bringen?
Ohne seine Antwort abzuwarten, ging Nandalee los. Keines der Menschenkinder wagte mehr, sie anzugreifen. Ja, schon die Blicke der Bogenschützin genügten, um sie ängstlich Deckung suchen zu lassen. Gonvalon nahm Bidayn und folgte ihr. Ihre Nähe versprach Schutz.
Wie ein Turm erhob sich der Schiffsbaum über Deck, so mächtig war der Stamm. Seine Rinde bildete beunruhigende Wulste aus, die an verzerrte Gesichter erinnerten. Ein wahres Konzert von Vogelstimmen empfing sie! Gonvalon entdeckte auch Affen im Geäst. Die Tiere wirkten verängstigt.
Weit entfernt zerteilte ein vielfach gegabelter Blitz den Himmel. Das gleißende Licht hatte einen grünlichen Schimmer. Besorgt blickte Gonvalon zu dem aufgedunsenen Leib des Wolkensammlers hinauf – und in diesem Augenblick setzte der Sturzregen ein. Schon bald rann Wasser in Bächen seinen Leib hinab und ergoss sich in schillernden Kaskaden an der Bordwand vorbei in die Tiefe. Was würde geschehen, wenn ein solches Ungeheuer von einem Blitz getroffen wurde?
»Leg Bidayn neben mich. Die Erde wird sie schützen.« Nandalee kauerte in der schwarzen Erde, in die der Schiffsbaum gepflanzt war, und sie sprach noch immer mit seltsam veränderter Stimme.
Gonvalon zögerte. Es gab keine deutliche Abgrenzung zwischen Planken und Erde. Nahe dem Baum wirkte das Holz faulig. Es war so schwarz wie die Erde. Seine Oberfläche zerfaserte und Erde drang in die Ritzen zwischen den Planken. Wurzeln durchdrangen das tote Holz des Schiffes. Sie schienen bis in den letzten Winkel des Rumpfes zu reichen – als habe sich der Baum das ganze Himmelsschiff erobert. Ein Teil des Astwerks reichte an den Flanken des Wolkensammlers hinauf, während sich etliche Tentakel um den Stamm wanden. Der Baum, das Schiff und der Wolkensammler, sie alle schienen einander zu durchdringen und zu einem großen Ganzen verschmolzen zu sein.
Er hatte keine Wahl, dachte Gonvalon bitter und legte Bidayn vorsichtig auf die dunkle Erde. Dabei beobachtete er misstrauisch das Wurzelwerk. Nichts regte sich. Nichts griff nach ihr. Bidayn war immer noch ohne Bewusstsein. Ihre Kleidung von Blut durchtränkt. Er fühlte ihren Puls. Kalte Wut stieg in ihm auf. Sie hätte nicht hier sein sollen! Bidayn fehlte eine grundlegende Voraussetzung, um eine Drachenelfe zu werden – die Fähigkeit, Feinde mit kaltem Herzen zu töten.
Verzweifelt blickte er zu Nandalee. Es war kalt. Kälter, als es selbst so weit im Himmel hätte sein sollen. Gonvalon konnte spüren, dass sie sich verändert hatte. Die feinen Haare in seinem Nacken richteten sich auf. Dieses Ding, das von ihr Besitz ergriffen hatte, schien an Macht zu gewinnen. Lag es an dem Baum oder an dem Unwetter, in dem die Urgewalten dieser fremden Welt entfesselt waren? Blitz auf Blitz peitschte vom Himmel herab. Immer näher beim Schiff. Das Donnergrollen ließ das Deck erbeben. Die Vögel oben im Baum waren verstummt.
Nandalee presste beide Hände gegen den dunklen Stamm. Ihre Lippen bewegten sich lautlos. Sie war völlig in sich versunken.
Besorgt blickte Gonvalon nach den Menschenkindern. Dann nahm er Nandalees Bogen. Er konnte damit nicht umgehen. Aber das wussten ihre Feinde ja nicht. Breitbeinig stellte er sich vor seine beiden Gefährtinnen. Einen Pfeil auf die Sehne gelegt, blickte er nach oben. Es schien zu wirken!
Rascheln lief durch das Blattwerk des Schiffsbaums. Ein Laut, zu intensiv selbst für den Sturmwind, der an dem riesigen Schiff zerrte. Es schien Gonvalon ganz so, als flüstere der Baum Nandalee etwas zu! Dumpfes Grollen drang aus dem Leib des Wolkensammlers. Dann ein lang gezogenes Zischen. Wie ein Warnlaut einer gereizten Schlange. Was tat Nandalee da?
»Du musst Bidayn helfen! Sie wird sterben. Bitte, Nandalee, komm zurück! Erinnere dich an deine Freundin. Bidayn!«
Die Jägerin wandte ihm den Kopf zu. In ihren Augen lag jener unheimliche grünliche Schimmer, den er schon einmal bemerkt hatte. Sie schüttelte den Kopf.
Die Planken des Decks knarrten. Eines der Menschenkinder stieß einen erschrockenen Ruf aus. Jetzt spürte es auch Gonvalon. Das riesige Schiff begann zu sinken! Schnell! Dabei driftete es mit dem Wind nach Norden ab.
Und Gonvalon verstand. Der Grüne Geist hatte ihn betrogen! Sie würden im grenzenlosen Wald zerschellen.
Der Beobachter
Der Ebermann lehnte an der Reling des Wolkenschiffes, das die kleine Luftflotte anführte. Am Bug blies der Wächter ein zweites Mal ins Horn und warnte die Schiffe, die einige Meilen voraus höher am Himmel schwebten. Die beiden Schiffe über ihnen liefen einen anderen Kurs. Offenbar trieben sie mit einer gegenläufigen Luftströmung.
Interessiert beobachtete der Ebermann, wie immer mehr Männer an Deck kamen. Für Handelsschiffe waren die drei Segler außergewöhnlich gut bemannt. Sie hatten ihn an Bord genommen, weil er ihnen Gold geboten hatte. Vor vier Tagen schon, als er in dichter besiedelte Gebiete gekommen war, hatte er die Gestalt eines hageren, kleinwüchsigen Händlers angenommen. Der Mann war ihm vor Jahren begegnet. Ein Temperamentbündel, immer gut aufgelegt und mit einem Selbstvertrauen, das in eklatantem Gegensatz zu seiner Körpergröße stand. Der Händler hatte ihn so sehr fasziniert, dass er ihn letztlich ermordet und ihn all seiner Erinnerungen beraubt hatte. Seither reiste er häufig in seiner Gestalt, wenn er sich unter Menschen bewegte. Der Devanthar liebte Gegensätze. Und gegensätzlicher konnte eine Gestalt kaum sein – verglichen mit dem Leib des großen Ebermannes, den er sonst so gerne wählte, wenn er sich in Fleisch kleidete.
Es war nicht zu übersehen, dass eine Schurkerei im Gange war. Männer bewaffneten sich mit Bogen und stiegen in die Takelage des Wolkenschiffs. Entlang der Reling wurden Enterhaken bereitgelegt. Unter dem Hauptdeck schütteten die Männer Sand aus Ballastkörben, damit das Wolkenschiff höher in den Himmel stieg.
»Gleich wirst du was erleben, Zwerg!«, raunte ihm ein großer, glatzköpfiger Krieger zu und schob ihn dann zur Seite, um das Seil eines Enterhakens an der Reling festzuknoten.
Der Ebermann konnte spüren, wie das Schiff höher stieg. Man wollte also den beiden anderen Wolkenschiffen den Weg verlegen. Das versprach eine nette Abwechslung auf dieser überaus langweiligen Reise zu werden. Er blickte zum dritten Wolkenschiff, das in der letzten halben Stunde etwas zurückgefallen war. Hoffentlich geschah den drei Elfen nichts. Er hatte sie auf dem Stapelhof beim Ankerturm eingeholt. Gerade als sie sich einschifften.