Der Drache wollte einfach nicht sterben! Jetzt versuchte er nicht mehr, den langen Bolzen zu packen zu bekommen. Stattdessen starrte er zu ihnen herüber. Seine Augenlider flatterten; hin und wieder zuckte sein schlangengleicher Schwanz. Je länger Hornbori den Drachen beobachtete, desto wütender wurde er. Diese Kreatur hatte seine Träume zu Asche verbrannt und seinen Flügelhelm vernichtet! Bartlos war er kein Held, sondern eine Witzfigur. Er würde niemals ein bedeutender Bergfürst werden.
Hornbori zog die kleine Handaxt aus seinem Gürtel. Entschlossen ging er auf den Drachen zu.
Wenn Ihr mir helft, werde ich Euch all Eure Träume erfüllen, erklang eine verlockende Stimme in seinem Kopf. In seinem Kopf! Sie war warm, diese Stimme. Der Drache sprach zu ihm! Das war erstaunlich, dachte Hornbori. Davon, dass Drachen sprechen konnten, hatte Galar ihm nichts erzählt. Und dann noch in seinem Kopf! Vielleicht wurde er ja verrückt – wer wusste das schon so genau? Wie gut, dass es keine Zeugen gab! Nyr und Galar waren noch immer bewusstlos – er konnte also getrost Antwort geben.
»Hältst du mich für dämlich? Jedes Kind weiß, dass man Drachen nicht vertrauen kann.« Entschlossen stapfte er weiter und achtete darauf, nicht in gerader Linie auf die Schnauze zuzumarschieren.
Ich kann den Kopf noch drehen. Während die Stimme sich erneut in seinen Kopf stahl, bewegte sich der Drache ein wenig.
»Ich habe gesehen, dass du den Kopf zurückbeugen musstest, um dein Feuer zu spucken. Ich glaube nicht, dass dir das gelingen wird, solange zehn Zoll Zwergenstahl aus deinem Genick ragen.«
Ihr möchtet König sein … Ich könnte Euch dabei helfen.
Hornbori lachte schrill auf – ein Laut, der selbst in seinen Ohren zum Fürchten klang. »Als hätte jemals ein Drache einen Zwerg auf einen Thron gesetzt. Das ist Unsinn!«
Seid Ihr Euch da ganz sicher?
Hornbori stand jetzt unmittelbar vor dem Ungeheuer. Der felsige Boden war durchtränkt von dunklem Drachenblut. Die Kreatur hob ihre zierliche Krallenhand, um ihn zurückzuhalten. Sie zitterte. Ein Amulett – eine Schneeflocke aus reinstem Bergkristall – hing an einem Lederriemchen vom schuppigen Handgelenk.
Wenn Ihr mich tötet, werden meine Brüder mich rächen. Sie werden schreckliches Leid über Euer Volk bringen. Ich bitte Euch …
Hornbori schlug mit der Axt nach der Klauenhand. Knochen splitterten. Ein Glied, das in einer dolchlangen Kralle endete, fiel zu Boden. »Du drohst mir, du bescheuerte Echse? Mich bedrohst du? Du wirst keinen Zwerg mehr ermorden. Mistvieh!«
Er schlug nach dem Kopf des Drachen, doch der Schädel war hart wie Stein. Dann duckte er sich unter dem klaffenden Kiefer hinweg und grub die Axt in das faltige Fleisch am Hals. Wieder und wieder schlug er zu. Wie ein Rasender. Die Stimme des Drachen drängte nicht mehr in seine Gedanken. Das Ungeheuer bewegte sich nicht mehr. Hornbori ließ die Axt sinken, weil seine Arme müde waren. Sein Zorn war noch lange nicht verraucht.
»Du bist Hornbori Drachentöter, nicht wahr?«
Der Zwerg fuhr herum. Hinter ihm standen zwei Zwerge in langen, rußgeschwärzten Kettenhemden. Voller Neid sah er, dass ihre Bärte nicht verbrannt waren. »Und wer seid ihr Trauerklöße? Ihr kommt spät! Die Drachenjagd ist vorüber.«
»Wir sind Leibwächter von Sviur«, sagte der kleinere von beiden.
»Ex-Leibwächter«, ergänzte der andere.
Hornbori blinzelte. Er war über und über mit Drachenblut besudelt, das ihm auch in die Augen rann. Mit einer fahrigen Geste fuhr er sich über die Stirn, um das Blut fortzuwischen, und bereute es sofort. Seine Haut war so verbrannt, dass selbst die leiseste Berührung brennende Schmerzen verursachte.
»Sviur ist tot«, sagte der kleinere der beiden Leibwächter und blickte zum Drachenmaul empor. »Ganz schön lange Zähne.«
Hornbori fühlte sich ein wenig schwindelig. Er lehnte sich gegen den Drachenkadaver. »Holt unsere Kameraden aus der Grotte! Und kümmert euch um meine Freunde dort drüben. Die hatten nicht so viel Glück wie ich.«
Die beiden Leibwächter nickten stumm, dann machten sie sich auf den Weg. Hornbori war überrascht, dass sie ihm ohne Widerspruch gehorchten. Genau genommen hatte er ihnen gar nichts zu sagen. Solchen Söldnern konnte man nicht trauen. Erstaunlich, dass sie ihm nicht die Kehle durchgeschnitten hatten, um den Ruhm, den Drachen getötet zu haben, für sich zu beanspruchen. Vielleicht verstrahlte er auch ohne Bart noch eine gewisse Autorität. Er lächelte. Sie hatten ihn Hornbori Drachentöter genannt. Vielleicht bestand trotz all der Toten auf dieser Jagd ja doch noch ein wenig Hoffnung, dass er eines Tages zum Fürsten einer der Tiefen Städte aufsteigen würde.
Zufrieden betrachtete er den toten Drachen. Dann schnitt er das Amulett von der Krallenhand. Dieses Beutestück sollte ihm ganz allein gehören! Ein Drachenamulett – das war genau das Richtige für einen Drachentöter.
Vom Wind der Freiheit
Artax beobachtete, wie die Enterhaken griffen und die Piraten die Seile straff zogen. Er stand hinter einer Luke im lang gestreckten Kajütenbau, der dicht vor dem Schiffsbaum lag. Der Raum roch nach Schweiß, ungewaschenen Kleidern und Waffenfett. Draußen goss es wie aus Kübeln. Der Wind hatte aufgefrischt und peitschte den Regen über Deck. Artax war überrascht, dass die Himmelspiraten bei diesem Sturm überhaupt ein Entermanöver wagten. Er kämpfte gegen seine Wut an. Die Drecksäcke hatten alles verdorben. Das Horn hatte das Nahen ihrer Schiffe angekündigt.
Anderseits – wären sie nicht gewesen, hätte das Unwetter sein Stelldichein mit Shaya beendet. Grelle Blitze zuckten über den Horizont und tauchten Deck und Takelage in blendend weißes Licht, um es einen Herzschlag später wieder der Finsternis zu überlassen. Die ersten Piraten kamen an Bord. Im Licht der Blitze sahen ihre Gesichter wie Masken aus. Ihre Bewegungen wirkten seltsam abgehackt.
»Werden sich erleben größte Überraschung von ihr Leben«, sagte Volodi in gewohnter Ignoranz jeglicher Grammatikregeln. Man hörte ihm die freudige Erwartung auf das kommende Gefecht an.
»Wir warten noch!«, sagte Artax entschieden.
Auch wenn niemand murrte, konnte er spüren, dass seine Entscheidung bei den Männern nicht gut ankam. Volodis Truppe aus Söldnern und Piraten war nicht die richtige Wahl für lange Reisen auf einem Wolkenschiff. Zwei Wochen, in denen sie kaum mehr hatten tun können, als auf die Landschaft unter sich zu blicken, waren ihnen nicht gut bekommen. Immer wieder hatten die Himmelshüter unter Jubas Kommando die Söldner trennen müssen, wenn sie wegen eines Würfelspiels oder irgendwelcher – tatsächlicher oder eingebildeter – Beleidigungen stritten. Sie sehnten einen Kampf herbei. Und sie waren sich völlig sicher, dass sie den Wolkenpiraten unendlich überlegen waren. Woher sie dieses Selbstbewusstsein nahmen, war Artax schleierhaft. Schließlich wussten sie so gut wie nichts über ihre Gegner.
Die Angreifer schwangen sich an Seilen auf ihr Schiff. Im Licht der Zwillingsmonde konnte Artax sie nicht ganz deutlich erkennen, doch die Trachten, die sie trugen, waren so verschieden, als stammten sie aus allen Weltengegenden.
Verwundert, auf keinerlei Widerstand zu stoßen, verharrten sie an Deck und sahen sich um. Ein hagerer Krieger deutete mit seiner Axt auf das Kajütenhaus. »Kommt heraus!«, rief er in der Sprache Luwiens. »Wer mit uns geht, wird eine Freiheit kennenlernen, von der er bislang noch nicht einmal zu träumen gewagt hat.« Der Mann hatte ein schmales, gut aussehendes Gesicht und dunkle Augen. Ein rotes Stirnband bändigte sein ergrauendes Haupthaar. Er trug keinen Bart, was Artax ein wenig befremdlich fand. Ebenso wie der Auftritt des Himmelspiraten. Dieses Angebot von Freiheit … Das war nicht, was er erwartet hatte. Darüber wollte er mehr wissen. Er hatte einen Verdacht, wer dort stand und die Angreifer anführte.