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Artax spürte, wie sie zitterte. Es war so kalt, dass ihnen der Atem in dichten weißen Wolken vor dem Mund stand. Sie musste ins Warme, auch wenn sie es nicht wollte. Dort war keine Nähe mehr möglich. Sie durften sich nicht noch einmal gehen lassen. Nicht vor so vielen Zeugen.

Kurz entschlossen zog er sie an sich und stahl ihr einen Kuss. Sie hielt ihn fest, erwiderte seinen Kuss, so leidenschaftlich und verzweifelt, als wäre sie sich sicher, dass es das letzte Mal war, dass sie einander in den Armen lagen. Plötzlich musste sie husten, löste sich, krümmte sich und hielt dabei immer noch fest seine Hand.

»Wir sollten hineingehen«, sagte er leise.

Sie nickte. Tränen standen in ihren Augen. Es war das erste Mal, dass er sie weinen sah.

Shaya bemerkte, wie er sie anblickte, und wischte sich mit der freien Hand über das Gesicht. »Der Husten«, entgegnete sie mit kratziger Stimme, die die Wahrheit nicht zu verbergen vermochte. »Nur der Husten.«

»Natürlich.« Er drückte noch einmal ihre Hand. Dann musste er sie loslassen. Sie betraten die enge Stiege, die hinab in den Rumpf des Wolkenschiffes führte. Hier herrschte überall Platzmangel. Mit seinem Palastschiff hatte dieser Frachter wenig gemein. Sein Hauptzweck bestand darin, möglichst viele Waren fassen zu können. Artax war zuvor nie zu Besuch auf diesem Schiff gewesen, aber er unterstellte, dass es ganz ähnlich gebaut sein würde wie jenes, auf dem er reiste.

Sein verstauchter Fuß schmerzte bei jedem Schritt, doch er biss die Zähne zusammen und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Vom Ende der Treppe drang mattgelbes Licht aus einer Hornlaterne herauf. Die Wände waren mit Ruß bemalt – wandernde Herden in weiten Graslandschaften; ein stilisierter Adler, allein im Himmel; ein Steppenreiter, der über die Körper erschlagener Feinde hinwegpreschte.

Am Ende der Treppe schob Shaya eine Tür auf. Sie zwängten sich durch einen engen Gang, bis sie an eine weitere Tür gelangten, die ganz in Rot und Gold bemalt war. Verschlungene Schriftzeichen wanden sich über das Holz. Shaya schob ihn durch einen Vorhang aus Perlschnüren und Artax war überrascht, wie groß die Kammer war, die sie betraten. Trotz der Feuerschalen, die aufgestellt waren, roch es ein wenig feucht und muffig.

In der Mitte der Kammer erhob sich ein Pfahl aus dem Holzboden. Bunte Tuchstreifen waren darum gewickelt und er wurde von einem bemalten Pferdeschädel gekrönt. Ringsherum kauerten die überlebenden Wolkenschiffer und Krieger. Sie wirkten apathisch, einige summten einen monotonen Kehrreim. Unmittelbar vor dem Pfahl kauerte ein grauhaariger Mann und streute Weihrauchklümpchen in eine Kupferschale. Artax kam das alles beklemmend vertraut vor. Er blickte zur Decke hinauf. Sie war ganz und gar von dichtem Wurzelwerk überwuchert!

»Wo sind wir hier?«

»Unter dem Schiffsbaum. Hier sind uns unsere Götter nah und unsere Ahnen.«

Artax blickte zum Perlvorhang zurück, dann zu dem Pferdeschädel und erneut zur Decke. Es war wie auf dem Todesschiff! Kleiner, weniger prächtig, aber ansonsten war es gleich.

»Wir werden hier sterben«, keuchte er, und ein Schmerz fuhr durch seinen Kopf, als habe man ihm einen glühenden Dolch ins Auge gestoßen. »Der Saal voller Toter. Das alles war wie hier!«

»Aber was sollte uns hier denn umbringen?«, wandte Shaya ärgerlich ein. »Unsere Ahnen und Götter wachen hier über uns.«

»Geht es dir etwa gut? Hast du nicht auch diese Kopfschmerzen? Verspürst du keine Übelkeit?« Artax’ Herz schlug so wild, dass er das Gefühl hatte, es müsse jeden Augenblick zerspringen. Sein Atem ging keuchend. Langsam wich er zu dem Perlvorhang zurück. »Wir müssen fort von hier, oder wir alle werden sterben!«

Shaya lächelte traurig. »Wohin willst du denn gehen? Wir schweben drei- oder viertausend Schritt über dem Wald. Wir können uns hier oben nur dem Schutz durch unsere Geister anvertrauen. «

Artax sah sie fassungslos an. Offenbar hatte sie nicht verstanden. Es gab keine schützenden Geister für sie. Nicht auf Nangog. Er hatte all das schon einmal gesehen und wusste, hier erwartete sie der Tod.

Die Höhle

Gonvalon stand der Atem vor dem Mund. Als die Sonne unterging, war es noch nicht Winter gewesen, doch jetzt sah er an einigen der alten Bäume Eiskristalle wuchern. Lichter wanderten durch den Nebel. Mal waren sie fern, gerade eben noch zu erkennen, dann wieder kamen sie bis auf wenige Schritt heran.

Nandalee eilte ihnen schweigend voraus. Es gab nur wenig Unterholz. Die dichten Baumkronen erstickten jeden Bewuchs am Waldboden. Jedenfalls soweit er das in dem Nebel sehen konnte. Der weiße Dunst reichte ihm bis über die Hüften. Alles hier erinnerte ihn an Matha Naht. Nur die Lichter … Wieder sah er eines ganz nah durch den Nebel gleiten. Er empfand Kälte. So plötzlich und stark, dass es fast wie eine Berührung war. Unter seinen Füßen spürte er dichtes Wurzelwerk. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sich die Wurzeln streckten oder seinen Tritten auswichen. Als wollten sie ihm den Weg erleichtern.

Über ihnen dröhnte das Laubdach vom Regen. Das Wasser verteilte sich ungleichmäßig auf dem Weg nach unten. Dicht bei den Stämmen blieb der Boden fast trocken, an anderen Orten stürzte es in Kaskaden hinab. Alles hier atmete Fremdartigkeit. Gonvalon hatte das beklemmende Gefühl, dass alles, was er sah, miteinander verbunden war. Und es beobachtete ihn. Die Bäume … und noch etwas, für das er keinen Namen hatte. Etwas, das so machtvoll war, dass es Wurzeln bewegte und den Lauf des Wassers von ungezählten Regentropfen lenkte. Er konnte diese Macht spüren. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde sie präsenter.

Wieder glitt ein grünes Licht ganz nah durch den Nebel. Etwa auf Höhe seiner Knie. Gonvalons Atem ging stoßweise und jede Faser seines Körpers war angespannt. Er wusste nicht, wie er sich gegen die Gefahr verteidigen sollte, die immer greifbarer wurde. Er trug Bidayn auf seinen Schultern. Sie kam ihm leicht wie eine Feder vor. Immer noch war sie ohne Bewusstsein doch manchmal stöhnte sie. Der Marsch schadete ihr. Wieder dachte Gonvalon an das Wurzelgeflecht, das in sie eingedrungen war, um angeblich ihre Blutung zu stillen. Ihn schauderte bei dem Gedanken. Hoffentlich erreichten sie bald ihr Ziel, was immer es auch sein mochte.

»Wie lange müssen wir noch gehen? Bidayn braucht eine Rast.«

Nandalee antwortete nicht. Sie wirkte gehetzt. Die grünen Lichter umringten sie jetzt in weitem Kreis. Mindestens acht! Umzingelten diese Kreaturen sie? Oder wollten sie sie vor etwas schützen?

Es ging einen Hang hinab. Der Boden war schlüpfrig vom Regen. Gonvalon kam nur langsam voran. Nandalee fluchte. Immer wieder blickte sie zu ihm zurück.

Irgendwo im Dunkel ertönte ein Schrei. Ein Laut, wie ihn der Elf noch nie zuvor gehört hatte. Ein Tier war das nicht! Plötzlich durchschnitt gleißend helles Licht den Nebel. Wie tausend strahlende Finger tastete es durch die Dunkelheit und zerteilte die wogenden Dunstschwaden, bewegte sich und füllte den Wald mit unheimlichen Schatten. Es war zu hell, um direkt hineinzuschauen – und es schien aus dem Abhang zu kommen. Nandalee stürmte den Hang hinauf und nahm ihm Bidayn von den Schultern. »Schnell jetzt!«

Die verwundete Zauberweberin stöhnte.

»Halt dich an meinem Arm fest und schließ die Augen. Wenn du in das Licht schaust, wirst du erblinden!« Die Fremdheit ihrer Stimme überraschte ihn immer aufs Neue. Ihre Worte klangen rau und waren von einem bizarren Akzent durchdrungen. Ihn überfiel die Vorstellung, wie die fremde Kreatur immer tiefer in Nandalee drang, sich in ihrem Wesen verwurzelte, ähnlich den Wurzeln, die ganz stofflich in Bidayns Wunde gedrungen waren. Folgte ihnen wirklich ein Devanthar, so wie der Grüne Geist behauptet hatte? Das Ding, das Nandalee besessen hatte, hatte Angst – so viel stand außer Zweifel. Aber war ihr Verfolger wirklich ein Devanthar? Ein Weltenschöpfer, so wie die Alben? Ganz gleich, was es war – es war klüger, nicht zurückzufallen. Offenbar gab es ja Hoffnung, an einen Ort zu gelangen, an dem ihr Verfolger ihnen nichts anhaben konnte.