Выбрать главу

Kolja warf ihm das Seil zu. Erst beim dritten Versuch bekam er es zu packen und der Drusnier zog sie zum Schiff herüber. Noch bevor er den Mast erreichte, sah Artax einen stämmigen, schwarzbärtigen Krieger durch die Takelage klettern. Juba.

Der Kriegsmeister drängte Kolja zur Seite und bestand darauf, ihn persönlich zum Mast hinaufzuziehen. »Du lebst!«, keuchte er, außer sich vor Freunde. »Du lebst!« Tränen standen ihm in den Augen.

Artax war gerührt. »Ich bringe euch nach unten«, versprach er. »Wie viele leben noch?«

»Es war schlimm.« Juba machte Platz, damit er an ihm vorbeikam und über den waagerechten Mast zum Hauptdeck gelangen konnte. »Wir sind noch neunundvierzig.« Der Kriegsmeister sprach abgehackt und keuchend, als habe die Schlacht um das Schiff gerade erst ein Ende gefunden.

Artax schloss die Augen und hielt einen Moment lang inne. Das Rechnen fiel ihm schwer, und dreimal überprüfte er das Ergebnis. Es gab mehr Überlebende, als er erwartet hatte, und das war kein Segen. Noch einmal rechnete er. Dann schickte er Juba in die Kajüte.

Als er das Hauptdeck erreichte, erwarteten ihn hoffnungsfrohe Gesichter. Auch die, die vielleicht ihr letztes Hemd bei den Wetten gegen ihn verloren hatten, strahlten. Sie erwarteten, dass er sie retten würde. Er war der Unsterbliche, der Herrscher aller Schwarzköpfe, ein Gott unter Menschen.

Volodi war da. Mitja mit seiner jungen Tochter. Nabor, der alte Lotse. Ein ganzer Trupp seiner Himmelshüter hatte überlebt. In ihren verbeulten Brustpanzern und zerfetzten weißen Umhängen erschienen sie ihm stolzer als je zuvor.

Artax grüßte einige der Männer mit Namen. Krieger, Söldner und auch einfache Wolkenschiffer. Während der letzten beiden Wochen hatte er es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, jeden Tag zehn Namen zu lernen. Er wollte wissen, wer ihm diente und wer für ihn sein Leben wagte. Mehr als die Hälfte der Überlebenden an Deck kannte er, zumindest namentlich.

Artax hockte sich neben Nabor. Der Lotse war sichtlich am Ende seiner Kräfte, hielt den Mund weit offen und wirkte wie ein sterbender Fisch am Ufer. »Was geht hier vor, Nabor? Was geschieht mit uns?«

»Wir sind in den höheren Himmel aufgestiegen.« Nabor brauchte nach jedem einzelnen Wort eine Pause, in der er um Atem rang. »Dies ist ein Ort für Götter. Menschen können hier nicht leben.«

Das konnte nicht stimmen, dachte Artax. »Dann wären die Wolkensammler ja Götter …«

»Weißt du, dass sie es nicht sind?«

Das wollte er nicht glauben! Diese tumben Kreaturen sollten Götter sein? Das war völlig absurd. Artax erhob sich und musste sich an der Reling aufstützen, als ihn starker Schwindel erfasste. Ununterbrochen hämmerte ein dumpfer, quälender Schmerz in seinem Kopf. Das einzig Gute daran war, dass der Schmerz die Stimme Aarons zum Verstummen gebracht hatte. Juba kehrte zurück und Artax sah ihm an, dass sein Kriegsmeister wusste, was kommen würde.

»Ihr dürft das nicht tun, Erhabener.«

»Du sprichst mich nicht mehr mit dem Du an?«

Juba wirkte verwirrt. Er hatte einen kleinen Kupfertopf geholt, ganz wie Artax es ihm aufgetragen hatte.

»Als du mich an Bord willkommen geheißen hast, hast du mich geduzt.« Artax lächelte. »Das hat gut getan.«

»Ich kann … Das war die Freude. Vor all den anderen ist das Du nicht angemessen.« Er stockte. Als er weitersprach, war seine Stimme ein Flüstern. »Ich bitte Euch, Erhabener – tut es nicht.« Er schüttelte den Topf und Artax hörte es darinnen klappern. Er war sich sicher, dass Juba seinen Befehl ausgeführt hatte.

»Ich stehe nicht über allen Menschen, mein Freund. Wir alle hier an Bord sind gleich.«

»Das ist doch Unsinn!«, brauste Juba auf, so laut, dass man zu ihnen hinübersah. »Ihr seid auserwählt. Ich sehe, welchen Kampf Ihr kämpft, Erhabener. Wie Ihr Aram besser machen wollt. Das Leben der Menschen, aller Menschen, erleichtern wollt. Der Himmelssturz hat Euch verändert. Die Götter müssen Euch erleuchtet haben. Es gab nie zuvor einen Herrscher wie Euch. Ihr müsst gerettet werden.«

Artax nahm den Topf. »Wenn die Götter mich beschützen, dann bin ich doch gewiss nicht in Gefahr. Und wenn ich umgekehrt nun von allen verlange, was ich selbst nicht zu geben bereit bin, dann ist mein Werk vielleicht nicht zerstört, aber ich habe meine Glaubwürdigkeit verloren. Ich muss es tun! Vergib mir, mein Freund.«

Nabor sah sie beide verwirrt an. Ihm war nicht klar, was kommen würde.

Artax richtete sich auf, hielt den Topf hoch und legte all seine verbliebene Kraft in seine Stimme. »Wir müssen dieses Schiff verlassen. Etwas hier macht uns krank, und es wird uns töten. Es gibt nur eine Hoffnung – wir müssen auf den Erdboden zurückkehren. Wir sind keine Geschöpfe des Himmels, und wir sind an einen Ort gelangt, der uns nicht bestimmt ist. Ich kann euch nicht versprechen, dass wir alle unbeschadet davonkommen werden. Aber ich habe Hoffnung. Die Ischkuzaia, die mit ihren kleinen Wolkensammlern zu unserem Schiff aufgestiegen sind, erwarten uns. Jeder von ihnen wird einen von euch in sein Fluggeschirr nehmen. Die Last wird zu schwer sein für die kleinen Wolkensammler. Sie werden der Erde entgegenstürzen. Aber wenn wir Glück haben, wird es ein langsamer Sturz sein und wir überleben. Hier an Bord des Himmelsschiffes brauchen wir auf kein Glück mehr zu hoffen. Hier werden wir sterben.«

Die Männer starrten ihn an. Die meisten hatten nicht verstanden, wovon er sprach. Einige wirkten apathisch. Die Ankündigung, dass sie vielleicht sterben würden, hatte kaum Wirkung auf sie. Nur Mitja, der Dolmetscher, hatte seine Tochter in den Arm genommen und drückte sie an sich.

»Es gibt nicht für jeden von uns einen Platz in den Fluggeschirren. Einige werden zurückbleiben.« Artax schüttelte den Topf, dass es leise klapperte. Er hörte das Geräusch kaum. Übelkeit überrollte ihn und er schwankte einen Augenblick. Er musste sich zusammenreißen! Jetzt durfte er sich nicht gehen lassen. »Die Ischkuzaia sind mit fünfunddreißig Wolkensammlern gekommen. Drei haben keinen Reiter, ein vierter hat mich getragen. Das heißt, für unser Schiff wird es siebenunddreißig Plätze für neunundvierzig Überlebende geben. Ich werde nicht entscheiden, wer es wert ist zu leben und wer sterben soll. Es bleibt uns auch keine Zeit zu reden. In diesem Topf sind neunundvierzig Bohnen, zwölf weiße und siebenunddreißig rote. Wer eine rote Bohne zieht, bekommt einen Platz auf einem Wolkensammler. « Artax griff in den Topf. Mit spitzen Fingern tastete er über die glatten Bohnen, nahm eine heraus und hielt sie in seiner Faust verborgen. Dann reichte er den Topf an Juba weiter. »Lass jeden eine Bohne ziehen, Kriegsmeister. Ergeben wir uns dem Schicksal.«

Artax schloss die Augen. Er wollte nicht mitansehen, was sich nun abspielen würde, doch seine Ohren konnte er nicht verschließen. Er hörte Keuchen und Flüche, erleichtertes Stöhnen. Mitja, der seiner Tochter versicherte, dass er sie niemals zurücklassen würde. Kolja, der in einer fremden Sprache drängend auf jemanden einredete. Ein wütender Aufschrei. Kaum unterdrücktes Schluchzen.

Der dumpfe, ununterbrochene Schmerz in seinem Kopf blendete langsam alles aus. Artax hörte nichts mehr, fühlte nichts. Er ließ sich vom Schmerz forttreiben.

»Erhabener!«

Benommen schlug er die Augen auf. Er sah nur verschwommen. Ein bärtiges Gesicht war dicht vor ihm.

»Erhabener!« Die Stimme klang dumpf und fremd.

»Wer …«

»Ich bin es, Erhabener. Juba. Du warst ohnmächtig. Es ist jetzt alles bereit. Die Ischkuzaia stehen entlang des Hauptmastes. Wir haben alle, die eine rote Bohne gezogen haben, angeschirrt. Shaya sagt, dass alle zugleich springen sollen. Sie meint, dass es dadurch sicherer wird.«

Artax bemerkte Blut auf dem Deck. »Was ist hier geschehen?«

»Nicht alle konnten die Entscheidung des Schicksals mit Würde tragen. Kolja hat jemanden gefunden, der ihm eine rote Bohne verkauft hat. Andere glaubten, sie könnten sich rote Bohnen nehmen. Ich habe das mit den Himmelshütern unterbunden. Einige haben friedlich getauscht. Ein Platz wurde frei, weil einer der Söldner starb. Er ist einfach zusammengebrochen.«