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Artax sah verschwommen einige Gestalten, die etwas entfernt an Deck standen.

»Ihr müsst nun Euren Platz einnehmen, Erhabener. Ich werde Euch stützen.«

Es war ihm peinlich, dass er Hilfe brauchte, um auf die Beine zu kommen, und er konnte sich nicht einmal erinnern, wann er gestürzt war. Unbeholfen erklomm er den Mast und tastete sich mit der Linken entlang der Sicherungsleine.

Juba legte ihm das Fluggeschirr an. Er teilte seinen Wolkensammler mit dem alten Lotsen. Bauch an Bauch hingen sie zusammen. Der Alte stank nach Erbrochenem. Das Weiß seiner Augen war voller roter Adern. Er wirkte benommen.

Artax hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er blickte über die Schulter zu Juba. Der Kriegsmeister nickte ihm feierlich zu. »Geht Euren Weg, Erhabener. Ihr seid wahrlich ein Gott unter Menschen. Es war mir eine Ehre, an Eurer Seite gefochten zu haben.«

Seine Hand. Seine Rechte war immer noch zur Faust geballt. Was für eine Bohne hatte er gezogen? Mit einem unguten Gefühl öffnete er die Hand. Seine Bohne war weiß.

»Ich hatte gehofft, Ihr würdet es vergessen, Erhabener.«

Artax starrte den Kriegsmeister an. »Du hast es gewusst?«

»Ich kann zählen. Eine weiße Bohne fehlte.«

»Du musst mich losmachen!«

»Ist alles bereit?«, rief Shaya vom Ende des Mastes.

»Nein«, begehrte Artax auf. »Nicht!« Er griff nach dem Gurtzeug und versuchte die Schnallen zu öffnen. Seine Hände zitterten. Er konnte immer noch nicht deutlich sehen.

Juba lächelte. Sanft. Traurig. Aufrichtig. Der Kriegsmeister war ein Freund. Ein wirklicher Freund. Er kannte den »neuen Aaron«, wie er ihn immer nannte, wohl besser als irgendein anderer. Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – hatte er stets zu ihm gestanden. »So wie ich Euch kenne, werdet Ihr wohl nicht mit Euch reden lassen, Erhabener«, sagte er.

»Ich befehle dir, mich loszumachen, Juba. Das Schicksal hat mir meinen Platz bestimmt. Ich werde dir nicht …«

Juba schüttelte den Kopf. »Vor vielen Monden habt Ihr mein Leben gerettet, als ich aus dem Himmel stürzen sollte. Ich bin es, der seinem vorbestimmten Schicksal entrissen wurde. Ich bedaure, meinen Dienst für Euch mit einem verweigerten Befehl zu beenden. Doch größer noch ist mein Stolz, Aram einen unvergleichlichen Herrscher zu schenken. Lebe wohl, Aaron, Beherrscher aller Schwarzköpfe … mein Freund.« Mit diesen Worten trat Juba einen Schritt zurück. Er stürzte! Noch im Fallen rief er seinen letzten Befehl. »Flieg, Shaya! Alle sind bereit.«

»Juba!«, rief Artax. »Mein Freund …« Artax wurde vom Mast gerissen. Das Gurtzeug schnitt in seine Brust. Tentakel griffen nach seinen Armen. Sie fielen viel zu schnell. Zu viele Menschen hingen an den kleinen Wolkensammlern.

Von rächenden Geistern

Mursil zog seinen Umhang enger um die Schultern. Ein eisiger Wind pfiff über die Mauern. Drei Stunden war er auf Wache gewesen und die Kälte war ihm bis tief in die Knochen gedrungen. Jetzt endlich konnte er sich zurückziehen.

Er wanderte hinüber zum Westturm, wo er gemeinsam mit den anderen im Erdgeschoss einquartiert war. Sie gehörten zur Leibwache des Königs, aber ihre Umhänge waren auch nicht wärmer als die irgendeines beliebigen Kriegers. Manche Männer glaubten, dass das Eisen ihrer Waffen die Kälte anzog. Mursil hielt das für Unsinn. Er stieß die niedrige Tür auf, und wohlige Wärme umfing ihn. Die meisten seiner Kameraden hatten sich in ihre Mäntel eingerollt und schliefen. Nur Urija saß beim Feuer in der Mitte der Turmkammer und schnitzte an einem Stock. Die rauchgeschwängerte Luft in der niedrigen Stube brannte Mursil in den Augen. Hastig zog der Krieger die Tür hinter sich zu und lehnte seinen Speer an die Wand neben der Tür. Erleichtert nahm er den schweren Helm mit dem Rosshaarbusch ab. Dort, wo der bronzene Wangenschutz aufgelegen hatte, war seine Haut taub von der Kälte der Nacht.

»Alles ruhig?« Urija blickte bei seiner Frage nicht einmal auf.

Natürlich war alles ruhig. Wer sollte es schon wagen, in den Palast des unsterblichen Muwatta einzudringen?

Mursil streifte die Wollmütze ab, die er unter dem Helm getragen hatte, und trat über einen seiner schlafenden Kameraden hinweg. Urija hatte ihm einen Platz beim Feuer frei gehalten. Es gab immer einen Platz für den, der von draußen kam.

»War alles ruhig?« Jetzt blickte der Alte doch auf. Ihm fehlten die Schneidezähne und seine Oberlippe war nur noch ein unförmiger Narbenwulst. Er hatte nie erzählt, wo er sich die Verletzung zugezogen hatte. Alle anderen prahlten mit den Narben aus ihren Kämpfen. Urija war anders. Er betrachtete jede Narbe als eine schmerzhafte Erinnerung an einen Fehler. Vielleicht lag es an seinem Alter? Er war schon über dreißig und in seinem Bart wucherten etliche weiße Stoppeln.

»Alles ruhig. Keiner der Hunde hat angeschlagen. Da draußen ist nichts außer Wind und Finsternis.«

»Da draußen ist mehr«, raunte er.

Mursil seufzte leise. Jetzt ging das schon wieder los! Seit sechs Tagen behelligte Urija jeden, der es nicht hören wollte, mit seiner Geschichte.

»Du hast auch nicht vergessen, nach oben zu blicken?«, drängte der Alte. »Du musst nach oben sehen! Von dort kommt das Übel, das wir fürchten sollten. Nicht von unten. Nicht von dort, wo wir mit ihm rechnen.«

»Ja, ich habe auch nach oben gesehen. Da ist nichts. Es ist viel zu dunkel.«

»Dass die Wolfshunde nicht anschlagen, bedeutet gar nichts. Die legen sich nur mit den Lebenden an. Wenn sie besonders still sind, muss man besonders wachsam sein, Mursil. Dann sind sie nah, die Geister!«

»Ja, ja.«

Der Alte legte zwei Holzscheite in die Glut und Mursil sah zu, wie Schaum zischend aus den Schnittkanten des Holzes quoll. Sie hatten schlechtes Holz geliefert bekommen. Die Hälfte davon war verfault. Er streckte die Hände dem Feuer entgegen.

»Ich habe sie so deutlich gesehen, wie ich dich jetzt vor mir sehe«, sagte Urija unvermittelt. »Sie war ganz weiß. Das Gewand fremdartig. Harte, kalte Augen hat sie gehabt. Und binnen eines Herzschlages war sie verschwunden. Sie ist über den Mauerkranz gesprungen und hat sich in Nichts aufgelöst.«

»Das hast du mir schon drei Mal erzählt …«

Urija ignorierte den Einwand. »Zart wie ein junges Zicklein war sie, ganz so wie die Haremsweiber. Ich sag dir, sie war ein Geist. Keiner der Hunde hat angeschlagen. Die sind klüger als wir – kläffen nichts an, was sie nicht beißen können.«

»Dann sei doch mal so klug wie die Hunde und sei auch still!«

Der Alte blickte ihn finster an. Seine Augen waren rot entzündet vom beißenden Rauch. »Die kommen unseretwegen, die Geister«, sagte er noch. Dann wandte er sich wieder seiner Schnitzarbeit zu. Einem angespitzten Stock, in dessen dunkle Rinde magische Symbole geritzt waren.

Mursil war froh, dass er sich den Unsinn nicht mehr anhören musste. Er glaubte nicht an Geister. Wer tot war, kam nicht noch einmal zurück. Nur vor Lebenden musste man sich fürchten, und deshalb schnitt er auf dem Schlachtfeld jedem verwundeten Feind die Kehle durch. Daran war nichts Ehrenrühriges. Er hatte in drei Feldzügen gegen die verfluchten Plünderer aus Ischkuza gekämpft. Die trieben es wesentlich schlimmer. Wer denen in die Hände fiel, der durfte nicht auf einen schnellen Tod hoffen.

Der Krieger dachte an die Toten, die man aus den brennenden Schilfbündelhallen geholt hatte. Vor allem die Erinnerung an die Frauen verfolgte ihn. Ihre Kleider waren verrutscht gewesen, die Schminke verlaufen. Die wunderschönen Frauen des Harems. Dort hatten sie zuerst Feuer legen müssen … Er war nicht stolz auf das, was er getan hatte. Aber er gehörte zur Leibwache des Unsterblichen, und er konnte sich darauf verlassen, dass es für jeden Befehl, den sie bekamen, einen guten Grund gab. Man musste sich nicht hinterher den Kopf zermartern, warum etwas geschehen war. Aram war der Feind! Der unsterbliche Aaron ein grausamer Schlächter, der Muwatta eine schreckliche Wunde beigebracht hatte. Aaron hatte bestraft werden müssen!