»Ja, ja, der Ballast. Wenn wir ihn abwerfen, gewinnen wir an Höhe und so können wir in andere Luftströme wechseln. Aber wie bekommt man das Schiff wieder herunter? Oben in den Wolken kann man schließlich schlecht neuen Ballast aufnehmen.«
Der Unsterbliche sah ihn an, öffnete den Mund … und schloss ihn wieder. Nabor hatte recht. Er hatte sich noch nie Gedanken darüber gemacht, wie sie aus dem Himmel wieder herunterkamen. Und dass es keineswegs selbstverständlich war.
»Wisst Ihr, Herr … Ich bin nun schon sehr lange auf dieser Welt. Ich liebe Nangog. Ich möchte nicht mehr fort. Und doch ist mir in jeder Stunde bewusst, dass wir hier nur ungeliebte Gäste sind. Die meisten von uns. Diese Welt kämpft gegen uns an. Sie … ist so grundlegend anders als unsere Heimat und … ich bin der Überzeugung, wir können sie nur mit unserem Herzen verstehen. Unserem Verstand widersetzt sie sich.«
»Was hat das damit zu tun, wie ein Wolkenschiff aus dem Himmel hinabsinkt?« Artax hob abrupt den Kopf. Er hatte etwas gesehen. Tief unten im Wald. Zwischen den Baumkronen …
»Ich glaube, es hat mit Gedanken zu tun. Die meisten Lotsen glauben das. Jedenfalls die erfahrenen unter ihnen. Wir beeinflussen die Wolkenschiffe mit unseren Gedanken, Herr. Ich stelle mir vor, wohin wir reisen wollen. Und den Weg, den wir nehmen sollten. Dabei ist es wichtig, dass man sich alles so vorstellt, wie es hoch oben aus der Luft betrachtet aussieht. Sonst erkennen sie die Ziele nicht.«
Artax blickte auf. Er wollte dem Lotsen ins Gesicht sehen, um sicherzugehen, dass Nabor nicht scherzte.
»Ihr habt richtig verstanden, Herr. Man steuert die Wolkensammler durch Gedanken«, wiederholte dieser trocken.
»Wie?«
»Das Holz des Schiffes. Ihr wisst, dass die feinsten Wurzelspitzen des Schiffbaumes bis in die entlegensten Winkel der Wolkenschiffe reichen. Ich muss eine der Wurzeln berühren und denke dann den Weg. Das Holz trägt die Nachricht weiter zum Schiffsbaum und dessen Äste reichen bis in den Leib des Wolkensammlers. So weiß der Wolkensammler um meine Gedanken.«
»Aber das … das ist verrückt!«
»Vor Jahren ist ein Wolkenschiff von einem Blitz getroffen worden. Dabei wurde der Schiffsbaum zerstört. Danach war das Wolkenschiff unsteuerbar. Man musste es aufgeben und den Wolkensammler freilassen.«
»Und das ist alles?« Artax mochte den Alten. Aber das hier war zu viel! Es war einfach Unsinn! »Und das ist alles?«, fragte er zweifelnd.
»Es gibt keine Beweise. Wie immer in Glaubensangelegenheiten. « Nabor sagte das geradezu herausfordernd.
»Und die anderen Lotsen glauben das auch?«
»Die guten. Jene, die an ihr Glück glauben und es nicht leichtfertig riskieren. Die, die Nangog respektieren.«
»Das heißt, ein Gedanke von dir könnte unseren kleinen Wolkensammler dazu bringen, zu sinken und in den Baumkronen vor Anker zu gehen?«
»Normalerweise ja …« Nabor wand sich vor Unbehagen. »Aber er will nicht. Ich kann es spüren. Da unten, irgendwo bei dem Schiff, ist etwas, wovor er sich fürchtet.«
Artax seufzte. Das war endgültig genug. Der Alte war verrückt. Wie hatte er sich nur so lange in ihm täuschen können? Er wandte sich erneut ab und blickte zum Wald hinab. »Du kannst also auch die Gefühle des Wolkensammlers wahrnehmen?«
»Wenn sie sehr stark sind und ich mit ihm in Verbindung stehe, ja. Hier im Fluggeschirr ist es etwas anderes, obwohl der Wolkensammler mich berührt. Wir verstehen uns nicht vollständig. Der Schiffsbaum ist wichtig. Er ist so etwas wie ein Dolmetscher. Ohne ihn besteht die Gefahr von Missverständnissen. Wir können auch …«
Artax hörte nicht mehr zu. Er starrte auf die wogenden Baumwipfel. Das Licht der Zwillingsmonde war … Nein, das Licht kam von unten. Zwischen den Bäumen hervor! Dutzende Lichter. Hunderte! Von überall her. Sie glitten durch den Wald und erleuchteten ihn mit ihrem grünen Licht. Und alle schienen sie sich auf einen Punkt hin zu bewegen, der nördlich des ankernden Wolkenschiffes lag. Genau in jener Richtung, in der auch ihre Wolkensammler trieben.
»Bei den Göttern! Das müssen Hunderte sein«, flüsterte nun auch Nabor. »Ich habe noch nie so viele Grüne Geister gesehen.«
Erleuchtet
Nandalee stürzte. Um sie herum war Finsternis, aber sie glitt geborgen in einem Strom aus Licht. Auch wenn sie sich an die Ereignisse nach dem Kampf an Bord des Wolkenseglers nicht mehr erinnern konnte wusste sie doch, dass der Grüne Geist gegangen war. Hatte der Geist sie alle in eine Falle gelockt? In einen bodenlosen Abgrund, der ihren Verstand verschlingen würde? Das Gefühl zu fallen machte ihr zu schaffen. Es gab nichts um sie herum, das ihr einen Anhaltspunkt dafür gab, wie schnell sie stürzte. Wie tief. Wie lange … Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.
Plötzlich wich die Finsternis. Kurz sah sie eine Wand voller riesiger grüner Kristalle. Dann war sie vorüber. Jetzt wusste sie, dass sie schnell stürzte. Sehr schnell! Und sie war in etwas gefangen. Nein … Sie war wie ein Pfeil, den man von einem Bogen abgeschossen hatte. Aber auf welches Ziel?
Sie stürzte durch eine Höhle, so weit wie der Himmel. Nur dass dieser Himmel von blassgrüner Farbe war. Wieder hatte sie die vage Ahnung, dass sie in etwas steckte. Aber der einzige Sinn, der ihr erhalten geblieben war, war ihr Gesichtssinn. Sie konnte nichts riechen oder ertasten. Nur sehen und warten konnte sie.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein in diesem weiten, grünen Himmel zu sein. Weit unter sich entdeckte sie tanzende Lichtbogen, ganz ähnlich jenen, die sie in der Kristallhöhle gesehen hatte. Nur größer. Sie waren weit wie Regenbogen und kannten doch nur eine Farbe – ein helles Grün.
Nandalee entdeckte Kristallsäulen. Sie kamen aus allen Richtungen und strebten einem gemeinsamen Ziel entgegen.
Der Sturz verlangsamte sich.
Jetzt erkannte sie, wo sie war – in einer Kristallsäule! Unter ihr, bei dem Quell der tanzenden Lichtbogen, lag etwas in grünen Nebelschleiern verborgen. Etwas Lauerndes, Verbittertes …
Nandalee konnte spüren, dass sie erwartet wurde. Was dort unten im Nebel war, hatte ihr Kommen herbeigesehnt, seit sie Nangog betreten hatte. Es hatte ihr den Grünen Geist geschickt. Es gebot über die Winde und Stürme dieser Welt. Es wusste alles, war mit allem verbunden. Und doch …
Ein weiter Lichtbogen streckte sich nach der Kristallsäule, die sie umschloss. Sie wollte zurückweichen, stellte sich vor, durch die Säule hinaufzustürzen. Sie wusste, dass dieses Licht alles verändern würde.
Der Lichtbogen berührte den Kristall – und jetzt konnte Nandalee durch den Nebel sehen.
Sie sah das Verborgene und Demut überkam sie.
Schlafende Daimonen
Artax beobachtete die Grünen Geister genau. Sie schienen etwas zu umkreisen, wie ein Rudel Wölfe auf der Jagd. Er war unendlich erleichtert, als die Wolkensegler schließlich nach Westen hin abdrifteten und dabei tiefer sanken. Kurz hatte er befürchtet, die Kreaturen würden sie ausliefern, sie den Geistern überlassen. Stattdessen segelten sie nun dicht über den Baumkronen einen Hang hinab. Ihre Tentakel griffen hinab ins Astwerk, Holz brach, nasses Laub raschelte. Immer mehr der Fangarme griffen hinab. Bald kam die Kette der treibenden Wolkensammler zum Stillstand. Während sie über den Wald getrieben waren, hatte sich ihre Kette aus Himmelsflüchtlingen gedreht. Artax war jetzt der Erste. Der Wind hatte ihn wieder zum Anführer gemacht.
Du warst nie ein Anführer. Du bist nur ein Bauer, der sich auf den Thon von Aram geschlichen hat. Vergiss das nie.
Artax seufzte. Er hatte gehofft, der höhere Himmel hätte ihn von Aaron befreit. Ein Wunschtraum. Natürlich. Schließlich lebte er nur, um Aaron eine Hülle zu geben. Artax schüttelte den Kopf und wie stets beeindruckte das seine innere Stimme nicht im Mindesten.
»Nicht Angst, ich mir nix nicht brechen Hals!«