Das Zaubern lässt du lieber bleiben. Einen Mangel an Macht sollte man durch Feingefühl ausgleichen. Du bist nicht dazu geboren, dir die Welt untertan zu machen. Hat man dich das nicht gelehrt, Albenkind? Er kniete neben ihr nieder. Ich hätte eine ganze Reihe von Fragen an dich. Hörst du mir zu?
Sie hielt nicht inne. Versuchte noch immer, ihren Zauber zu weben und ihm im letzten Augenblick zu entfliehen.
Er strich ihr mit den Krallenfingern über die Hand. Weißt du denn nicht, dass ich dich gerettet habe, Albenkind? Wäre ich nicht gekommen, hätte das magische Netz dich getötet. Du bist überaus unhöflich und kennst weder die Grenzen deiner Macht noch gutes Benehmen. Es kostete ihn nur ein Schnippen, ihr zwei Finger abzutrennen – und sie verstummte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die verlorenen Finger und war derart geschockt, dass sie nicht einmal schrie.
Der Ebermann zog die Lefzen hoch und lächelte. Wirst du mir jetzt antworten, Albenkind? Oder spielen wir weiter? Acht Finger hast du noch, wie ich sehe.
Sie starrte ihn noch immer an, und er weidete sich an ihrer Furcht. Er mochte Gefühle. Starke, klare Gefühle. Diese Elfe, das spürte er, würde ihm nicht nur vieles verraten, sie würde ihm auch Freude bereiten, während sie starb.
Todbringer
»Wir sollten jetzt ausbrechen«, drängte Nandalee, aber Gonvalon rührte sich nicht. »Wir werden warten, bis Bidayn uns ein Zeichen gibt. Sie wird ihre Sache gut machen.«
Nandalee schnaubte. Manchmal war seine Ruhe zum aus der Haut fahren! Bidayn hatte irgendetwas angestellt, das lag doch auf der Hand, denn draußen herrschte ein wahrer Tumult unter den Menschenkindern. Diese Verwirrung zu nutzen – das wäre klug. Und deshalb sollten sie nicht länger … Nandalee keuchte auf und brach in die Knie. Sie fühlte sich, als habe ihr ein unsichtbarer Riese seine Faust in den Magen gerammt. In einer fließenden Bewegung griff sie nach ihrem Schwert. Die Matrix war erschüttert. Etwas Schreckliches war geschehen!
Gonvalon sah sie verständnislos an. Er hatte gar nichts gespürt, das war offensichtlich.
Ein gellender Schrei hallte durch die Nacht. Bidayn!
Augenblicklich war Nandalee auf den Beinen und stürmte aus der Höhle. Ihr war egal, was Gonvalon tun würde. Sie musste zu Bidayn!
Eine junge Kriegerin stellte sich ihr in den Weg, ein lächerliches Bronzeschwert in der Hand. Nandalee ließ Todbringer kreisen – das große, ungeliebte Schwert. Metall kreischte. Die Menschenkinder schrien auf, als die Klinge Bronze, Fleisch und Knochen zerteilte.
Das Bronzeschwert der Kämpferin war zerbrochen. Ein hässlicher, kahlköpfiger Kerl, der versucht hatte, ihr einen Dolch in den Rücken zu stoßen, lag am Boden und wand sich vor Schmerzen. Erneut warf sich ihr die Kriegerin entgegen und versuchte sie mit bloßen Händen aufzuhalten. Hinter sich hörte sie Gonvalon. Die Menschenkinder waren erstaunlich mutig. Statt zurückzuweichen, versuchten sie, ihre Übermacht zu nutzen.
Die Menschentochter mit den schwarz umrandeten Augen hatte ihre Klinge unterlaufen. Sie griff nach dem Jagdmesser an ihrem Gürtel. Nandalee stieß den Knauf ihrer schweren Waffe hinab und traf die Angreiferin an der Schläfe. Wie vom Blitz gefällt brach sie zusammen.
Jemand stieß einen wilden Schrei aus. Blechern, unmenschlich. Der Krieger mit dem Maskenhelm drängte durch die Schar der Angreifer. Er bewegte sich geschickt und griff sie voller ungestümer Verzweiflung an. Kreischend schlugen ihre beiden Schwerter aufeinander. Ein unheimliches grünes Licht flackerte um seine Klinge. Er stieß ihr den Kopf ins Gesicht. Der Angriff traf sie unerwartet. Stechender Schmerz zuckte durch ihre Nase. Blut quoll ihr über die Lippen.
Sie rammte dem Angreifer ein Knie zwischen die Beine, parierte einen Schwerthieb von einem muskelbepackten Blondschopf und wich einen Schritt zurück. Sie musste durchbrechen, dachte sie verzweifelt. Etwas war mit Bidayn geschehen. Ihre Freundin brauchte sie!
Wieder ließ sie die Klinge kreisen und trat nach dem Krieger mit dem Maskenhelm, der versuchte, die Frau zur Seite zu ziehen. Er kämpfte so verbittert für die Schwarzhaarige, wie sie für Bidayn stritt. Wenn er starb, würden die anderen fliehen.
Sie führte einen Hieb gegen seinen Helm. Die Wucht des Treffers schleuderte den Menschensohn zur Seite. Ein Aufschrei ging durch seine Kämpfer. Sie hörte einen Namen rufen: Aaron.
Nandalee nutzte die Panik unter ihren Gegnern, um durchzubrechen. Ein hastiger Blick zurück zeigte ihr, dass Gonvalon ihr folgte. Und sie sah, was er getan hatte. Überall lagen Tote. Krieger, die versucht hatten, in ihren Rücken zu gelangen. Er hatte sie gerettet, und sie hatte es nicht einmal bemerkt. Deutlich konnte sie den Lichtbogen der magischen Pforte zwischen den Bäumen sehen. Ein Stück entfernt kauerte eine unförmige Gestalt. Eine Kreatur, wie Nandalee sie nie zuvor gesehen hatte.
»Bei den Alben«, flüsterte Gonvalon. »Zurück! Lass uns fliehen. Das ist ein Devanthar.«
Nandalee sah, dass dieser Ebermann eine blasse, blutverschmierte Hand hielt. Bidayns Hand!
Mit einem wilden Schrei stürmte sie vorwärts. Es war ihr egal, was Gonvalon sagte. Es war ganz gleich, was vernünftig war oder ob sich der Fluch, der auf diesem Schwert lag, erneut erfüllen würde. Sie würde niemals ihre Freundin hilflos in den Klauen eines Ungeheuers lassen. Nie!
Sie hörte Schritte hinter sich. Gonvalon folgte ihr. Das war nicht gut! Es war ihre Sache, nicht die seine.
Der Devanthar erhob sich. Für seine massige Gestalt bewegte er sich erstaunlich geschickt. Er hatte den Kopf eines Ebers. Blutunterlaufene Augen starrten sie an. Er hob die Krallenhände.
Todbringer schnitt einen silbernen Halbkreis – und verfehlte ihn! Er war … Verwirrt sah Nandalee sich um. Er hatte den Ort gewechselt! Nun stand er vor einem Baum drei Schritt links von ihr. Aber er hatte sich nicht bewegt! Nicht wie ein Wesen aus Fleisch und Blut.
»Ich hab sie«, rief Gonvalon hinter ihr. »Schnell, zum Albenstern! Schnell! Diesen Kampf können wir nicht gewinnen!«
Der Pakt
Der Devanthar zögerte anzugreifen. Etwas hielt ihn zurück! Diese Elfe war es nicht, denn er hatte schon einige Drachenelfen getötet. Sie war draufgängerisch und furchtlos, aber er kämpfte mit der Erfahrung von Jahrhunderten und würde sie besiegen. Nur das Schwert … Er spürte seine dunkle Macht. Es hatte etwas an sich, das ihn an sich zweifeln ließ. Diese Waffe war erschaffen worden, um Unsterbliche zu töten. Übelste Drachenmagie war in die Klinge geflossen. Vielleicht reichte schon eine kleine Wunde durch diese Klinge aus, um ihn zu töten.
Und dann war da noch die Kreatur, die unmittelbar hinter der magischen Pforte lauerte. Vor einem Augenblick war sie noch nicht dort gewesen, doch jetzt spürte er ihre Präsenz. Er konnte nicht sagen, was es war. Eine Regenbogenschlange? Vielleicht sogar einer der Alben? Er wusste es nicht, aber er hatte das Gefühl, dass dieses Geschöpf durch das Tor schreiten würde, wenn er die Elfe angriff.
Die Kriegerin ließ ihn nicht aus den Augen. Das Schwert erhoben, wich sie langsam zum Albenstern zurück. Sie wusste, was er war, denn ihr Gefährte hatte sie gewarnt. Dennoch zeigte sie keine Angst. Der Ebermann zögerte noch immer. Diese Waffe … Wenn er sie anblickte, stellte er sich vor, wie sie ihm Glieder abtrennte, ihn durchbohrte. War das Teil der Drachenmagie oder seine Phantasie?