»Nun denn, du hast danach gefragt, das weißt du«, schimpfte Fizban und streifte mit der Hand über die Robe der Stimme der Sonnen, während der Elf ihn mit offenem Mund angaffte.
»Wer bist du?« keuchte die Stimme der Sonnen.
»Mmmmh. Wie war der Name?« Der alte Magier warf Tolpan einen Blick zu.
»Fizban«, sagte der Kender hilfsbereit.
»Ja, Fizban. Der bin ich.« Der Magier strich über seinen weißen Bart. »Nun, Solostaran, ich schlage vor, du rufst deine Wachen zurück und sagst allen, sie sollen sich beruhigen. Ich für meinen Teil würde gern die Geschichte dieser jungen Frau hören, und du für deinen Teil solltest ihr lieber auch zuhören. Es würde dir auch nicht weh tun, dich zu entschuldigen.«
Als Fizban auf die Stimme der Sonnen mit einem Finger zeigte, rutschte sein zerbeulter Hut nach vorn und bedeckte seine Augen. »Hilfe! Ich bin blind!« Raistlin, mit einem mißtrauischen Blick auf die Elfenwachen, eilte zu ihm. Er nahm den Arm des alten Mannes und schob ihm den Hut aus dem Gesicht.
»Ah, Dank den wahren Göttern«, sagte der Magier, blinzelte und schlurfte davon. Die Stimme der Sonnen beobachtete mit verwirrtem Gesichtsausdruck den alten Magier. Dann, als ob er träumen würde, wandte er sich zu Goldmond.
»Ich entschuldige mich, Dame der Ebenen«, sagte er leise. »Es ist schon über dreihundert Jahre her, seit die Elfenkleriker verschwunden sind, dreihundert Jahre, seit das Symbol von Mishakal in diesem Land gesehen wurde. Mein Herz blutete, als ich das Amulett entweiht sah, wie ich dachte. Vergib mir. Wir sind nun schon so lange verzweifelt, daß ich nicht mehr das Kommen der Hoffnung erkenne. Bitte, wenn du nicht erschöpft bist, erzähle uns deine Geschichte.«
Goldmond erzählte die Geschichte des Stabs, erzählte von Flußwind und der Steinigung, vom Treffen der Gefährten im Wirtshaus und von ihrer Reise nach Xak Tsaroth. Sie erzählte von der Vernichtung des Drachen und wie sie das Amulett von Mishakal erhalten hatte. Aber sie erwähnte nicht die Scheiben.
Die Sonnenstrahlen wurden länger, während sie sprach, änderten ihre Farbe, als die Dämmerung nahte. Als sie mit ihrer Geschichte fertig war, schwieg die Stimme der Sonnen lange Zeit.
»Ich muß über all das nachdenken und darüber, was es für uns bedeutet«, sagte er schließlich. Er wandte sich an die Gefährten. »Ihr seid erschöpft. Ich sehe, einige von euch können sich nur aus reiner Tapferkeit auf den Füßen halten. In der Tat« – er lächelte, als er zu Fizban sah, der an eine Säule gelehnt stand und leise schnarchte – »einige von euch schlafen sogar auf den Füßen. Meine Tochter Laurana wird euch an einen Ort führen, an dem ihr eure Ängste vergessen könnt. Heute abend werden wir euch zu Ehren ein Festessen geben, denn ihr habt uns Hoffnung gebracht. Der Friede der wahren Götter soll mit euch sein.«
Die Elfen teilten sich und ließen eine Elfe durch, die zum Podium ging und sich neben die Stimme der Sonnen stellte. Bei ihrem Anblick blieb Caramon der Mund offen stehen. Flußwinds Augen weiteten sich. Selbst Raistlin erstarrte: Endlich sahen seine Augen Schönheit, denn keine Spur von Zerfall zeichnete das junge Elfenmädchen. Ihr Haar war wie Honig, der aus einem Krug floß; es lief über ihre Arme und über ihren Rücken, ihre Taille, bis zu den Handgelenken. Ihre Haut war glatt und waldbraun. Sie hatte die zarten und feinen Gesichtszüge der Elfen, nur der Mund war ein wenig voller, und ihre Augen waren groß und klar; Augen, die ihre Farbe wie Blätter im flackernden Sonnenschein veränderten.
»Auf meine Ehre als Ritter«, sagte Sturm mit stockender Stimme, »noch nie habe ich solch eine wunderschöne Frau gesehen.«
»Das wirst du auch nicht mehr in dieser Welt«, murmelte Tanis.
Die Gefährten blickten erstaunt auf, als Tanis sprach, aber der Halb-Elf bemerkte es nicht. Seine Augen waren auf das Elfenmädchen gerichtet. Sturm runzelte die Augenbrauen, tauschte mit Caramon Blicke, der seinen Bruder anstieß. Flint schüttelte den Kopf und seufzte tief.
»Jetzt wird vieles klarer«, sagte Goldmond zu Flußwind.
»Für mich ist es aber nicht klar«, sagte Tolpan. »Weißt du, was los ist, Tika?«
Alles, was Tika wußte, als sie Laurana sah, war, daß sie sich plötzlich plump und halbnackt, sommersprossig und rothaarig fühlte. Sie zog ihre Bluse höher über ihren Busen, hoffte, daß sie nicht ganz soviel enthüllte, oder wünschte, daß sie weniger zu enthüllen hätte.
»Sag mir, was los ist?« flüsterte Tolpan, der sah, wie die anderen einander ansahen.
»Ich weiß nicht!« schnappte Tika. »Ich weiß nur, daß sich Caramon zum Narren macht. Sieh dir doch den großen Ochsen an. Man könnte meinen, er hat noch nie eine Frau gesehen.«
»Sie ist hübsch«, sagte Tolpan. »Ganz anders als du, Tika. Sie ist schlanker, und sie geht wie ein Baum, der sich im Wind neigt und…«
»Oh, halt den Mund!« flüsterte Tika wütend und gab Tolpan einen Schubs, daß er beinahe hingefallen wäre.
Tolpan sah sie verletzt an, dann ging er zu Tanis, entschlossen, sich in der Nähe des Halb-Elfs aufzuhalten, bis er wußte, was vor sich ging.
»Ich heiße euch in Qualinost willkommen, geehrte Gäste«, sagte Laurana schüchtern mit einer Stimme, die wie ein klarer Bach perlte. »Folgt mir bitte. Der Weg ist nicht weit, und am Ende könnt ihr essen und trinken und euch ausruhen.«
Anmutig ging sie auf die Gefährten zu, die sich vor ihr teilten, so wie es die Elfen getan hatten, und sie bewundernd anstarrten. Laurana senkte ihre Augen in mädchenhafter Bescheidenheit und Befangenheit, ihre Wangen röteten sich. Sie sah nur einmal auf, als sie an Tanis vorbeiging – ein flüchtiger Blick, den nur Tanis bemerkte. Sein Gesicht wurde finster, seine Augen verdunkelten sich.
Die Gefährten weckten Fizban und verließen den Sonnenturm.
6
Tanis und Laurana
Laurana führte sie zu einem schattigen Espenwäldchen mitten im Stadtzentrum. Sie schienen sich im Herzen eines Waldes zu befinden, obwohl sie von Gebäuden und Straßen umgeben waren. Nur das Gemurmel eines nahen Baches brach die Stille. Laurana zeigte auf Obstbäume zwischen den Espen und bat die Gefährten, sich an den Früchten zu bedienen. Elfenmädchen brachten Körbe mit frischem, duftendem Brot. Die Gefährten wuschen sich im Bach, dann legten sie sich auf das weiche Moos und genossen die friedliche Atmosphäre. Alle außer Tanis. Er lehnte ab zu essen und wanderte in dem Wäldchen herum, in Gedanken versunken. Tolpan beobachtete ihn heimlich, von Neugierde verzehrt.
Laurana war eine vollendet charmante Gastgeberin. Sie kümmerte sich um alle und tauschte mit jedem einzelnen ein paar Worte aus.
»Flint Feuerschmied, nicht wahr?« fragte sie. Der Zwerg errötete vor Freude. »Ich habe immer noch einige wundervolle Spielsachen, die du mir gemacht hast. Wir haben dich in all diesen Jahren vermißt.«
Flint war so verwirrt, daß er nicht sprechen konnte. Er ließ sich auf das Gras fallen und kippte hastig einen riesigen Krug Wasser hinunter.
»Du bist Tika?« fragte Laurana das Barmädchen.
»Tika Waylan«, antwortete das Mädchen heiser.
»Tika, ein schöner Name. Und was für schönes Haar du hast«, sagte Laurana und berührte bewundernd die federnden roten Locken.
»Findest du wirklich?« fragte Tika und errötete, als sie Caramons Augen auf sich gerichtet sah.
»Natürlich! Es ist die Farbe der Flamme. Dein Charakter muß genauso sein. Ich habe gehört, wie du das Leben meines Bruders gerettet hast, Tika. Ich stehe tief in deiner Schuld.«
»Danke«, sagte Tika leise. »Dein Haar ist auch sehr schön.«
Laurana lächelte und ging weiter. Tolpan bemerkte jedoch, daß ihre Augen ständig Tanis suchten. Als der Halb-Elf plötzlich einen Apfel wegwarf und in den Bäumen verschwand, entschuldigte sich Laurana eilig und folgte ihm.
»Ah, jetzt werde ich herausfinden, was hier vor sich geht!« sagte Tolpan zu sich. Er blickte sich um und schlüpfte Tanis hinterher.