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Er war noch nicht lange in Treibgut – genauer gesagt vier Tage. Und die meiste Zeit davon hatte er mit ihr verbracht. Tanis verdrängte diesen Gedanken, als er durch den Regen auf die Straßenschilder starrte. Er wußte nur vage, wohin er ging. Seine Freunde waren in einem Gasthaus am Rande der Stadt. Einen Moment lang fragte er sich verzweifelt, was er tun sollte, falls er sich verlaufen würde. Er konnte es nicht wagen, sich nach ihnen zu erkundigen…

Und dann fand er das Gasthaus. Er stolperte durch die verlassenen Straßen, glitt auf Eis aus und schluchzte fast vor Erleichterung, als er das Schild wild im Wind schaukeln sah. Er hatte sich nicht einmal an den Namen erinnern können, aber jetzt fiel er ihm wieder ein – Zum Wellenbrecher.

Dummer Name für ein Gasthaus, dachte er, während er, vor Kälte schlotternd, kaum den Türgriff fassen konnte. Als er die Tür öffnete, wurde er mit der Wucht des Windes hineingeblasen, und nur mit Mühe konnte er sie wieder hinter sich zudrücken.

Es gab keinen Nachtwächter – nicht in diesem schäbigen Gasthaus. Im Schein eines Kaminfeuers sah Tanis einen Kerzenstummel auf der Theke liegen. Seine Hände zitterten so sehr, daß er den Feuerstein kaum halten konnte. Er zwang seine steifgefrorenen Finger zu gehorchen, zündete die Kerze an und stieg die Treppe hoch.

Wenn er sich umgedreht und aus dem Fenster geschaut hätte, hätte er eine Gestalt im Türeingang auf der anderen Straßenseite erkennen können. Aber Tanis sah nicht aus dem Fenster, seine Augen waren auf die Stufen gerichtet.

»Caramon!«

Der kräftige Krieger saß sofort kerzengerade, seine Hand griff unwillkürlich nach seinem Schwert, noch bevor er sich umdrehte und seinen Bruder fragend ansah.

»Ich habe draußen ein Geräusch gehört«, flüsterte Raistlin.

»So wie wenn eine Schwertscheide gegen eine Rüstung schlägt.«

Caramon schüttelte den Kopf, um die Schläfrigkeit zu vertreiben, und kletterte mit dem Schwert in der Hand von seinem Lager. Er schlich zur Tür, bis auch er das Geräusch wahrnahm, das seinen Bruder aus seinem leichten Schlaf geweckt hatte. Ein Mann in Rüstung bewegte sich verstohlen im Korridor vor ihren Räumen. Dann konnte Caramon das schwache Licht einer Kerze durch einen Türspalt sehen. Das Geräusch der klappernden Rüstung hörte direkt vor ihrem Zimmer auf.

Caramon machte Raistlin ein Zeichen. Raistlin nickte und verschmolz mit den Schatten. Seine Augen wirkten abwesend. Er rief sich einen Zauberspruch ins Gedächtnis.

Das Kerzenlicht unter der Tür flackerte. Der Mann mußte die Kerze in die andere Hand genommen haben, um seinen Schwertarm frei zu haben. Caramon schob langsam und geräuschlos den Türriegel zurück. Der Mann zögerte, vielleicht war er sich nicht sicher. Er wird es schon noch schnell genug herausfinden, dachte Caramon.

Caramon riß plötzlich die Tür auf. Er sprang vor, packte die dunkle Gestalt und zerrte sie ins Zimmer. Mit seiner ganzen Kraft schlug der Krieger den Mann zu Boden. Die Kerze fiel runter, ihre Flamme erstickte im geschmolzenen Wachs. Raistlin begann einen Zauberspruch zu singen, der ihr Opfer in einer klebrigen, spinnenähnlichen Substanz festhalten würde.

»Halt! Raistlin, hör auf!« schrie der Mann. Caramon, der die Stimme erkannte, ergriff seinen Bruder und schüttelte ihn, um seine Trance zu unterbrechen.

»Raist! Es ist Tanis!«

Zitternd kam Raistlin aus seiner Trance. Dann begann er zu husten und griff sich an die Brust.

Caramon warf seinem Zwillingsbruder einen besorgten Blick zu, aber Raistlin wehrte ihn mit einer Handbewegung ab. Caramon drehte sich um und half dem Halb-Elfen auf die Füße.

»Tanis!« schrie er und zerquetschte den Halb-Elfen fast in seiner freudigen Umarmung. »Wo warst du? Wir haben uns solche Sorgen gemacht. Bei allen Göttern, du frierst ja! Ich werde das Feuer schüren. Raist«, Caramon wandte sich an seinen Bruder, »ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«

»Mach dir um mich keine Sorgen!« flüsterte Raistlin. Der Magier sank, nach Atem ringend, auf sein Lager zurück. Seine Augen glitzerten golden im flackernden Feuer, als er den Halb-Elfen musterte, der sich dankbar neben dem Kamin niederkauerte. »Du solltest lieber die anderen holen.«

»Du hast recht.« Caramon steuerte auf die Tür zu.

»Zuerst würde ich mir etwas anziehen«, bemerkte Raistlin sarkastisch.

Caramon errötete und eilte zu seinem Bett zurück. Nachdem er eine Lederhose und ein Hemd angezogen hatte, ging er in den Korridor und schloß leise die Tür hinter sich. Tanis und Raistlin konnten hören, wie er an die Tür der Barbaren klopfte. Sie konnten Flußwinds ernste Frage und Caramons eilige, aufgeregte Erklärung hören. Tanis sah kurz zu Raistlin – die seltsamen Stundenglasaugen des Magiers waren mit einem durchdringenden Blick auf ihn gerichtet – und drehte sich dann verlegen dem Feuer zu.

»Wo bist du gewesen, Halb-Elf?« fragte Raistlin mit seiner sanften, flüsternden Stimme.

Tanis schluckte nervös. »Ich wurde von einem Drachenfürsten gefangengenommen.« Er hatte sich schon eine Antwort zurechtgelegt, die er nun aufsagte. »Der Fürst dachte natürlich, ich wäre einer seiner Offiziere, und bat mich, ihn zu seiner Truppe zu begleiten, die außerhalb der Stadt stationiert ist. Natürlich mußte ich dem Befehl nachkommen, sonst wäre er argwöhnisch geworden. Erst heute nacht konnte ich verschwinden.«

»Interessant.« Raistlin hustete beim Sprechen.

Tanis sah schnell zu ihm hoch. »Was ist interessant?«

»Ich habe dich noch nie lügen hören, Halb-Elf«, antwortete Raistlin sanft. »Ich finde es… recht… faszinierend.«

Tanis öffnete den Mund, aber bevor er etwas sagen konnte, kam Caramon mit Flußwind, Goldmond und Tika zurück. Goldmond eilte auf Tanis zu und umarmte ihn. »Mein Freund!« sagte sie, ihr versagte die Stimme und sie drückte ihn fest an sich. »Wir haben uns solche Sorgen gemacht…«

Flußwind umklammerte Tanis’ Hand, sein sonst so ernstes Gesicht entspannte sich zu einem Lächeln. Sanft schob er seine Frau aus der Umarmung mit Tanis, aber nur, um ihren Platz einzunehmen.

»Mein Bruder!« sagte Flußwind im Que-Shu-Dialekt der Barbaren und umarmte den Halb-Elfen. »Wir haben befürchtet, man hätte dich gefangengenommen! Getötet! Wir wußten nicht…«

»Was ist geschehen? Wo warst du?« fragte Tika neugierig und trat heran, um Tanis zu umarmen.

Tanis warf Raistlin einen Blick zu, aber der hatte sich wieder zurückgelegt, seine seltsamen Augen waren zur Decke gerichtet, an der Unterhaltung war er offenbar nicht interessiert. Er räusperte sich, war sich bewußt, daß Raistlin zuhörte, und wiederholte seine Geschichte. Die anderen unterbrachen ihn gelegentlich mit interessierten und mitfühlenden Ausrufen und Fragen. Wer war dieser Fürst? Wie groß war seine Armee? Wo war sie jetzt stationiert? Was taten die Drakonier in Treibgut? Suchten sie wirklich nach ihnen? Wie war Tanis entflohen? Tanis beantwortete all ihre Fragen ausweichend. Was den Fürsten anging, so hatte er nicht viel von ihm gesehen. Er wußte nicht, wer er war. Die Armee war nicht groß. Sie war außerhalb der Stadt stationiert. Die Drakonier suchten jemanden, aber nicht sie. Sie suchten einen Mann namens Berem oder so ähnlich. Bei dieser Antwort warf Tanis Caramon einen Blick zu, aber das Gesicht des Kriegers zeigte nicht, daß er sich an irgend etwas erinnern würde. Tanis atmete erleichtert auf. Gut, Caramon erinnerte sich also nicht an den Mann, der auf der Perechon ein Segel geflickt hatte. Entweder erinnerte er sich nicht, oder er hatte den Namen des Mannes nicht verstanden. Die anderen nickten, waren mit seiner Geschichte beschäftigt. Tanis seufzte vor Erleichterung. Und was Raistlin betraf… nun, es spielte keine große Rolle, was der Magier dachte oder sagte. Die anderen würden eher Tanis als Raistlin glauben, selbst wenn der Halb-Elf behaupten würde, daß Schwarz Weiß sei. Sicherlich war sich Raistlin dessen bewußt, und darum bezweifelte er nicht laut Tanis’ Geschichte. Tanis gähnte und stöhnte, als wäre er total erschöpft. Er wollte weiteren Fragen entgehen, die ihn tiefer in Lügen verstricken würden.