Ich wusste nicht mehr, in welchem Monat dies war oder in welchem Jahr. Ich wusste nur, dass diese Erinnerung in mir lebte, ein vollkommen konserviertes Stück einer guten Vergangenheit, ein bunter Tupfer auf der öden grauen Leinwand, zu der unser Leben geworden war.
An den Rest der Fahrt habe ich nur noch vereinzelte Erinnerungsfetzen, die kommen und gehen, meist Laute und Gerüche: Migs, die über uns hinwegfliegen, das Stakkato von Geschützfeuer, ein in der Nähe schreiender Esel, das Bimmeln von Glöckchen und das Blöken von Schafen, knirschender Schotter unter den Reifen des Lastwagens, ein Baby, das im Dunkeln wimmert, der Gestank von Benzin, Erbrochenem und Exkrementen.
Die nächste Erinnerung ist das blendende Licht des frühen Morgens, als wir aus dem Tank hinausklettern. Ich weiß noch, wie ich mein Gesicht dem Himmel zuwandte, mit zusammengekniffenen Lidern nach oben schaute, atmete, als gäbe es bald keine Luft mehr auf der Erde. Ich lag am Rand einer unbefestigten Straße neben einem steinigen Graben, blickte in den grauen Morgenhimmel hinauf und war dankbar für die Luft, dankbar für das Licht, dankbar, am Leben zu sein.
»Wir sind in Pakistan, Amir«, sagte Baba. Er stand neben mir und sah auf mich herunter. »Karim sagt, er wird uns einen Bus besorgen, der uns nach Peshawar bringt.«
Ich rollte mich auf der kühlen Erde auf den Bauch und erblickte unsere Koffer, die rechts und links von Babas Füßen standen. Durch das umgekehrte V seiner Beine sah ich den Tankwagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Die anderen Flüchtlinge kletterten die Leiter hinunter. Dahinter erstreckte sich die unbefestigte Straße, lief zwischen Feldern hindurch, die unter dem grauen Himmel bleiernen Platten glichen, ehe sie hinter einer Hügelkette verschwand. Unterwegs führte sie an einem kleinen Dorf vorbei, das sich über einen sonnenverbrannten Abhang verteilte. Ich vermisste Afghanistan schon jetzt.
Meine Augen kehrten zu unseren Koffern zurück. Bei ihrem Anblick tat mir Baba Leid. Nach allem, was er aufgebaut und geplant, wofür er gekämpft, worüber er sich aufgeregt und wovon er geträumt hatte, war dies nun die Summe seines Lebens: ein enttäuschender Sohn und zwei Koffer.
Jemand schrie. Nein, es war kein Schreien. Es war ein Wehklagen. Ich sah, dass die Passagiere sich zu einem Kreis zusammengedrängt hatten, vernahm ihre aufgeregten Stimmen. Jemand äußerte das Wort »Dämpfe«. Ein anderer sagte es ebenfalls. Das Klagen verwandelte sich in ein Kreischen, das die Kehle zu zerreißen drohte.
Baba und ich eilten auf die Gruppe zu und schoben uns nach vorn durch. Kamals Vater saß dort, inmitten des Kreises, im Schneidersitz, schaukelte vor und zurück und küsste das aschfahle Gesicht seines Sohnes.
»Er will nicht atmen! Mein Junge will nicht atmen!«, schrie er. Kamals lebloser Körper lag im Schoß seines Vaters. Seine geöffnete, schlaffe rechte Hand hüpfte im Rhythmus der Schluchzer seines Vaters auf und ab. »Mein Junge! Er will nicht atmen! Warum hilft ihm Allah nicht, zu atmen?«
Baba kniete sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schulter. Aber Kamals Vater schubste ihn weg, kam auf die Beine und stürzte sich auf Karim, der mit seinem Cousin in der Nähe stand. Dann ging alles so schnell, so überstürzt, dass man es kaum als Handgemenge bezeichnen konnte. Karim stieß einen überraschten Schrei aus und taumelte zurück. Ich sah einen Arm, der ausholte, ein Bein, das trat. Einen Moment später stand Kamals Vater mit Karims Pistole in der Hand da.
»Nicht schießen!«, schrie Karim.
Aber bevor irgendjemand etwas sagen konnte, steckte sich Kamals Vater den Lauf der Waffe in den eigenen Mund. Ich werde niemals das Echo dieses Schusses vergessen. Und das helle Aufblitzen und das umherspritzende Rot.
Ich krümmte mich und übergab mich am Straßenrand.
11
Fremont, Kalifornien, 80er-Jahre
Baba liebte die Vorstellung von Amerika.
Tatsächlich dort zu leben brachte ihm ein Magengeschwür ein.
Ich erinnere mich noch daran, wie wir beide durch den Lake Elizabeth Park in Fremont spaziert sind, der ein paar Straßen weit von unserer Wohnung entfernt lag, den Jungen beim Baseballspielen zusahen und an kleinen Mädchen vorübergingen, die kichernd auf den Schaukeln des Spielplatzes saßen. Auf diesen Spaziergängen klärte mich Baba in langatmigen Vorträgen über seine politischen Anschauungen auf. »Es gibt nur drei echte Männer auf dieser Welt, Amir«, verkündete er und zählte sie an seinen Fingern auf: »die Vereinigten Staaten von Amerika — der draufgängerische Retter —, Großbritannien und schließlich Israel. »Der Rest…« an dieser Stelle wedelte er mit der Hand und gab ein »Pffffffft« von sich, »das sind doch bloß tratschende alte Weiber.«
Das mit Israel brachte ihm den Zorn der Afghanen ein, die in Fremont lebten und ihm vorwarfen, projüdisch zu sein und de facto antiislamisch. Baba traf sich mit ihnen zu Tee und rowt-Kuchen im Park und machte sie mit seinen politischen Ideen verrückt. »Sie wollen einfach nicht begreifen«, erklärte er mir hinterher, »dass die Religion nichts damit zu tun hat.« Babas Ansicht nach stellte Israel eine Insel »echter Männer« in einem Meer von Arabern dar, die zu sehr damit beschäftigt waren, von ihremÖl fett zu werden, anstatt sich um ihre eigenen Leute zu kümmern. »Israel macht dies, Israel macht das«, sagte Baba mit einem nachgeahmten arabischen Akzent. »Dann unternehmt doch was! Tut was! Ihr seid Araber, also helft den Palästinensern!«
Er verabscheute Jimmy Carter, den er als einen »Kretin mit Pferdegebiss« bezeichnete. 1980, als wir noch in Kabul waren, hatten die USA erklärt, sie würden die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren. »Blabla!«, rief Baba damals empört, »Breschnew massakriert die Afghanen, und alles, was diesem Erdnussfresser einfällt, ist, dass er nicht in einem russischen Schwimmbecken plantschen will.« Baba glaubte, dass Carter, ohne es zu wollen, mehr für den Kommunismus getan habe als Leonid Breschnew. »Er ist nicht dafür geeignet, dieses Land zu lenken. Es ist so, als würde man einen Jungen, der nicht Fahrrad fahren kann, hinter das Steuer eines nagelneuen Cadillac setzen.« Was Amerika und die Welt brauchten, war ein starker Mann. Ein Mann, mit dem man rechnen musste, jemand, der zur Tat schritt und nicht bloß die Hände rang. Dieser Jemand war Ronald Reagan. Und als Reagan im Fernsehen auftrat und die Shorawi als »Reich des Bösen« bezeichnete, ging Baba hin und kaufte ein Bild des grinsenden Präsidenten, auf dem er beide Daumen in die Höhe streckte. Er steckte das Bild in einen Rahmen und hängte es in unserem Flur auf, hängte es an einen Nagel direkt neben das alte Schwarzweißfoto, auf dem er zu sehen ist, wie er König Zahir Shah die Hand schüttelt. Die meisten unserer Nachbarn in Fremont waren Busfahrer, Polizisten, Tankwarte und allein erziehende Mütter, die von der Fürsorge lebten — genau der Teil der amerikanischen Gesellschaft, der schon bald unter dem Kissen ersticken würde, das die »Reagonomics« ihm ins Gesicht drückte. Baba war der einzige Republikaner in dem Haus, in dem wir wohnten.