»Wie ist deine Meinung, Amir jan?«, fragte Khala Jamila.
Ich stellte mein Glas auf das Fenstersims, wo eine ganze Reihe Geranien in Blumentöpfen stand, von denen Wasser herabtropfte. »Ich stimme General Sahib zu.«
Der General nickte beruhigt und wandte sich wieder dem Grill zu.
Wir alle hatten unsere Gründe, die gegen eine Adoption sprachen. Soraya hatte ihre, der General seine, und ich hatte diesen einen: dass vielleicht irgendetwas, irgendjemand irgendwo entschieden hatte, mir die Vater schaft aufgrund der Dinge, die ich getan hatte, zu versagen. Vielleicht war das meine Strafe und vielleicht sogar eine gerechte dazu. Vielleicht sollte es einfach nicht sein, hatte Khala Jamila gesagt. Oder vielleicht sollte es eben genau so sein.
Einige Monate später benutzten wir den Vorschuss meines zweiten Romans als Anzahlung für ein hübsches viktorianisches Haus mit zwei Schlafzimmern in Bernal Heights, einem Stadtteil von San Francisco. Es hatte ein Spitzdach, Holzböden und einen winzigen Garten, an dessen Ende sich eine Sonnenterrasse und eine Vertiefung zum Grillen befanden. Der General half mir dabei, die Terrasse auf Hochglanz zu bringen und die Wände zu streichen. Khala Jamila beklagte, dass wir beinahe eine Stunde von ihnen entfernt wohnen würden, vor allem weil sie glaubte, dass Soraya so viel Liebe und Unterstützung wie nur möglich nötig habe — ohne sich bewusst zu sein, dass gerade ihr gut gemeintes, aber übertriebenes Mitgefühl Soraya zu einem Umzug bewogen hatte.
Manchmal, wenn Soraya ruhig neben mir schlief, lag ich wach im Bett, horchte auf die Tür mit dem Insektengitter, die im Wind aufschwang und wieder zufiel, auf das Zirpen der Grillen im Garten. Und ich konnte geradezu die Leere in Sorayas Leib spüren, wie ein lebendes, atmendes Ding. Diese Leere hatte sich in unsere Ehe geschlichen, in unser Lachen und in unser Liebesspiel. Und in der Nacht spürte ich in der Dunkelheit unseres Zimmers, wie sie von Soraya aufstieg und sich zwischen uns legte. Zwischen uns schlief. Wie ein neugeborenes Kind.
14
Juni 2001
Ich legte den Hörer auf die Gabel und starrte lange Zeit auf den Apparat. Erst als Aflatoon mich mit einem Kläffen aufschreckte, bemerkte ich, wie ruhig es im Zimmer geworden war. Soraya hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet.
»Du siehst blass aus, Amir«, sagte sie, auf dem Sofa liegend, das uns ihre Eltern zum Einzug in unsere erste Wohnung geschenkt hatten. Sie hatte die Beine unter den abgenutzten Kissen vergraben, während Aflatoon seinen Kopf an ihren Brustkasten schmiegte. Sie war halb damit beschäftigt, sich eine Dokumentation über Wölfe in Minnesota anzusehen, und halb damit, Aufsätze zu korrigieren — sie unterrichtete schon seit sechs Jahren an derselben Schule. Nun setzte sie sich auf, und Aflatoon sprang vom Sofa herunter. Es war der General, der unserem Cockerspaniel den Namen Aflatoon gegeben hatte — das Farsi-Wort für Plato —, weil man, wie er behauptete, wenn man ganz tief und lange genug in die verschleierten schwarzen Augen des Hundes blickte, hätte schwören können, dass ihn kluge Gedanken beschäftigten.
Da war nun ein Scheibchen Fett, eine bloße Andeutung, unter Sorayas Kinn. Die letzten zehn Jahre hatten die Kurven ihrer Hüften ein wenig gepolstert und ein paar aschgraue Strähnen in ihr rabenschwarzes Haar gewoben. Aber mit ihren Augenbrauen, die an Vögel im Flug erinnerten, und ihrer Nase, die so elegant geschwungen war wie ein Buchstabe aus alten arabischen Schriften, hatte sie immer noch das Gesicht einer Ballprinzessin.
»Du siehst blass aus«, wiederholte Soraya und legte den Papierstapel, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch.
»Ich muss nach Pakistan.«
Jetzt stand sie auf. »Nach Pakistan?«
»Rahim Khan ist sehr krank.« Bei diesen Worten ballte sich etwas in meinem Innern zur Faust.
»Kakas alter Geschäftspartner?« Sie hatte Rahim Khan nie kennen gelernt, aber ich hatte ihr von ihm erzählt. Ich nickte.
»Oh«, sagte sie. »Das tut mir Leid, Amir.«
»Wir standen uns einmal sehr nah«, sagte ich. »Als Kind war er der erste Erwachsene für mich, den ich als Freund betrachtete.« Ich sah die beiden vor mir, Baba und Rahim Khan, wie sie im Arbeitszimmer Tee tranken und anschließend, am Fenster sitzend, rauchten, während eine Brise den Duft der Heckenrosen aus dem Garten ins Zimmer trug und den Rauch ihrer Zigaretten kräuselte.
»Ich erinnere mich noch daran, wie du mir von ihm erzählt hast«, sagte Soraya. Sie verstummte für einen Augenblick, ehe sie fragte: »Wie lange wirst du weg sein?«
»Ich weiß es noch nicht. Er will mich sehen.«
»Ist es nicht…«
»Nein, es ist nicht gefährlich. Mir wird nichts geschehen, Soraya.« Ich wusste, dass sie genau das hatte einwenden wollen — fünfzehn Jahre Ehe hatten uns in Gedankenleser verwandelt. »Ich werde einen Spaziergang machen.«
»Soll ich dich begleiten?«
»Nein, ich gehe lieber allein.«
Ich fuhr zum Golden Gate Park und ging am Spreckels Lake am nördlichen Rand des Parks spazieren. Es war ein wunderschöner Sonntagnachmittag, die Sonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen San-Francisco-Brise angetrieben, dahinsegelten. Ich setzte mich auf eine Parkbank, sah einem Mann zu, der mit seinem Sohn Football spielte und ihm erklärte, dass es besser war, den Ball nicht von der Seite, sondern über die Schulter hinweg zu werfen. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen — rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks.
Ich dachte an eine Bemerkung, die Rahim Khan, kurz bevor er auflegte, gemacht hatte. Ganz beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen. Ich schloss die Augen und sah ihn am anderen Ende der Leitung vor mir, sah die leicht geöffneten Lippen, den zur Seite geneigten Kopf. Und wieder deutete etwas in seinen schwarzen, unergründlichen Augen auf ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns hin. Bloß dass ich nun die Gewissheit besaß, dass er es wusste. Meine Vermutung war also all die Jahre richtig gewesen. Er wusste Bescheid über Assef, den Drachen, das Geld, die Uhr mit den Zeigern, die wie Blitze aussahen. Er hatte es immer gewusst.
Komm. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan kurz vor dem Auflegen gesagt. Beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen.
Eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen.
Als ich nach Hause kam, sprach Soraya am Telefon mit ihrer Mutter. »Wird nicht lange dauern, Madar jan. Eine Woche, vielleicht zwei… Ja, du und Padar, ihr könnt so lange bei mir wohnen…«
Der General hatte sich vor zwei Jahren die rechte Hüfte gebrochen. Er hatte wieder einmal an einem seiner Migräneanfälle gelitten, war verschlafen und benommen aus seinem Zimmer herausgekommen und über einen Teppich gestolpert. Sein Schrei hatte Khala Jamila aus der Küche zu ihm eilen lassen. »Es klang wie ein jaroo, ein Besenstiel, der in der Mitte durchbricht«, erzählte sie immer wieder gern, obwohl der Arzt erklärt hatte, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass sie irgendetwas in der Art gehört haben könnte. Die zerschmetterte Hüfte des Generals — und all die sich daraus ergebenden Komplikationen, die Lungenentzündung, die Blutvergiftung, der verlängerte Aufenthalt in der Privatklinik — hatte Khala Jamilas langjährigen Monologen über den Zustand ihrer Gesundheit ein Ende bereitet. Und neue über den General hervor gerufen. Sie erzählte jedem, der bereit war, ihrzuzuhören, dass die Ärzte ihnen gesagt hätten, dass seine Nieren kurz vor dem Versagen stünden. »Aber die haben noch nie afghanische Nieren gesehen, nicht wahr?«, sagte sie stolz. Am lebendigsten ist mir aus jener Zeit in Erinnerung geblieben, wie Khala Jamila am Krankenbett des Generals wartete, bis er eingeschlafen war, um ihm dann Lieder vorzusingen, die ich noch aus Kabul kannte, wo sie in Babas knarzendem alten Radio erklungen waren.