»Wie lange?«
Er zuckte mit den Schultern. Hustete wieder. »Ich glaube nicht, dass ich das Ende dieses Sommers noch erleben werde«, sagte er.
»Komm mit mir nach Hause. Ich kann dir einen guten Arzt besorgen. Sie entdecken ständig neue Behandlungsmöglichkeiten. Es gibt neue Medikamente und experimentelle Therapien, ich könnte dafür sorgen, dass man dich aufnimmt…« Ich war mir bewusst, dass ich schwafelte. Aber es war besser, als zu weinen, was ich gewiss ohnehin tun würde.
Er lachte mich aus, und ich konnte sehen, dass ihm die unteren Schneidezähne ausgefallen waren. Noch nie hatte ich jemanden so erschöpft lachen sehen. »Wie ich sehe, hat dich Amerika mit seinem Optimismus, der es so groß gemacht hat, angesteckt. Das ist gut. Wir Afghanen sind melancholische Menschen, nicht wahr? Oft schwelgen wir viel zu sehr in ghamkhori und Selbstmitleid. Wir ergeben uns dem Verlust, dem Leiden, betrachten es als Teil des Lebens, sehen es sogar als etwas Notwendiges an. Zendagi migzara sagen wir, das Leben geht weiter. Aber ich beuge mich nicht etwa dem Schicksal, sondern ich bin einfach nur pragmatisch. Ich habe hier einige gute Arzte aufgesucht, und sie haben mir alle die gleiche Antwort gegeben. Ich vertraue ihnen. Es gibt so etwas wie den Willen Gottes.«
»Es gibt nur das, was man tut, und das, was man nicht tut.«
Rahim Khan lachte. »Jetzt klingst du wie dein Vater. Ich vermisse ihn so sehr. Aber es ist Gottes Wille, Amir jan. So ist das nun einmal.« Er verstummte für einen Moment. »Außerdem gibt es noch einen anderen Grund, warum ich dich gebeten habe, hierher zu kommen. Ich wollte dich noch einmal sehen, bevor ich gehen muss, das ist wahr, aber da ist noch etwas anderes.«
»Was auch immer es ist, sag es mir.«
»Ich habe doch all die Jahre in dem Haus deines Vaters gelebt, nachdem ihr fortgegangen seid, nicht wahr?«
»Ja.«
»Nun, ich war in der Zeit nicht allein. Hassan hat bei mir gewohnt.«
»Hassan«, sagte ich. Wann hatte ich das letzte Mal seinen Namen ausgesprochen? Die spitzen alten Stacheln der Schuld bohrten sich wieder in mein Fleisch, als hätte das Aussprechen seines Namens einen Bann gebrochen, um sie mich aufs Neue spüren zu lassen. Plötzlich kam mir die Luft in Rahim Khans kleiner Wohnung so stickig vor, so heiß und so erfüllt von den Gerüchen der Straße.
»Ich wollte es dir immer schon einmal schreiben, aber ich war mir nicht sicher, ob du es überhaupt wissen woll test. Habe ich mich getäuscht?«
Die Wahrheit lautete Nein. Die Lüge hieß Ja. Ich entschied mich für etwas dazwischen. »Ich bin mir nicht sicher.«
Er hustete einen weiteren Blutfleck in sein Taschentuch. Als er den Kopf vorbeugte, um zu spucken, erblickte ich honigfarbene, verkrustete wunde Stellen auf seiner Kopfhaut. »Ich habe dich hierher geholt, um dich um etwas zu bitten. Ich werde dich bitten, etwas für mich zu tun. Aber bevor ich das tue, möchte ich dir von Hassan erzählen. Verstehst du das?«
»Ja«, murmelte ich.
»Ich möchte dir von ihm erzählen, und ich möchte, dass du alles erfährst. Wirst du mir zuhören?«
Ich nickte.
Rahim Khan nahm ein paar Schlucke von seinem Tee.
Dann lehnte er den Kopf an die Wand und begann zu reden.
16
Es gab mehrere Gründe, warum ich 1986 in den Hazarajat reiste, um Hassan zu suchen. Der wichtigste davon war — Allah möge mir verzeihen —, dass ich mich einsam fühlte. Zu der Zeit waren die meisten meiner Freunde und Verwandten entweder umgebracht worden oder nach Pakistan und in den Iran geflüchtet. Ich kannte kaum noch jemanden in Kabul, der Stadt, in der ich mein ganzes Leben gewohnt hatte. Alle waren sie geflohen. Wenn ich im Kerteh-Parwan-Viertel spazieren ging — da, wo früher die Melonenverkäufer ihre Buden hatten, weißt du noch? —, erkannte ich dort niemanden mehr. Niemand, den ich grüßen konnte, niemand, mit dem ich mich hinsetzen und einen chai trinken konnte, niemand, mit dem ich Geschichten austauschen konnte, bloß Roussi-Soldaten, die in den Straßen patrouillierten. Also hörte ich mit der Zeit auf, in der Stadt herumzulaufen. Ich verbrachte meine Tage oben im Arbeitszimmer im Haus deines Vaters, las die alten Bücher deiner Mutter, hörte die Nachrichten im Radio und sah mir die kommunistische Propaganda im Fernsehen an. Ich betete meine namaz, kochte mir etwas, las weiter, betete erneut und ging zu Bett. Am Morgen stand ich auf, betete, und alles ging wieder von vorn los.
Und mit meiner Arthritis wurde es immer schwerer, das Haus instand zu halten. Meine Knie und der Rücken taten ständig weh. Wenn ich morgens aufstand, brauchte ich mindestens eine Stunde, um die Steifheit aus den Gliedern zu schütteln — ganz besonders im Winter. Ich wollte das Haus deines Vaters nicht vor die Hunde gehen lassen; wir alle haben dort früher so viel Spaß gehabt, Amir jan, so viele gute Erinnerungen sind mit ihm verbunden. Es wäre ungerecht gewesen: Dein Vater hat das Haus selbst entworfen, es hat ihm so viel bedeutet, und außerdem hatte ich ihm doch versprochen, darauf aufzupassen, als ihr beide nach Pakistan floht. Nun waren da nur noch ich und das Haus und… Ich habe wirklich mein Bestes gegeben. Ich habe versucht, die Bäume je den Tag zu wässern, den Rasen zu schneiden, mich um die Blumen zu kümmern, alles zu reparieren, was repariert werden musste, aber schon damals war ich kein junger Mann mehr.
Dennoch, ich hätte es vielleicht schaffen können. Zumindest noch für eine Weile. Aber als mich dann die Nachricht vom Tode deines Vaters erreichte… da verspürte ich zum ersten Mal eine schreckliche Einsamkeit in diesem Haus. Eine schreckliche Leere.
Und so füllte ich eines Tages den Tank des Buick und fuhr in den Hazarajat hinauf. Ich wusste noch, dass mir dein Vater nach Alis Entlassung erzählt hatte, dass die beiden in ein kleines Dorf in der Nähe von Bamiyan gezogen waren. Ali hatte dort einen Cousin. Ich hatte keine Ahnung, ob Hassan immer noch bei ihm lebte oder ob irgendjemand etwas über seinen Verbleib wissen würde. Immerhin waren zehn Jahre vergangen, seit Ali und Hassan das Haus deines Vaters verlassen hatten. Hassan war 1986 ja schon ein erwachsener Mann von zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren — wenn er noch lebte, was ich damals nicht wusste. Die shorawi — mögen sie in der Hölle schmoren für das, was sie unserem watan angetan haben — hatten so viele unserer jungen Männer umgebracht. Aber das muss ich dir ja nicht sagen.
Doch mit Gottes Hilfe habe ich ihn gefunden. Es war gar nicht so schwer; ich musste nichts weiter tun, als in Bamiyan einige Fragen stellen, und die Leute wiesen mir den Weg zu seinem Dorf. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es hieß oder ob es überhaupt einen Namen hatte. Aber ich weiß noch, dass es ein glühend heißer Sommertag war und ich über eine zerfurchte, unbefestigte Straße fuhr, und rechts und links von mir war nichts außer ausgedörrten Büschen, knorrigen, dornigen Baumstämmen und vertrocknetem Gras. Ich fuhr an einem toten Maultier vorbei, das neben der Straße verweste. Und dann sah ich mit einem Mal mitten in diesem kargen Land eine Ansammlung von Lehmhütten vor mir, und dahinter nichts weiter als den weiten Himmel und Berge, die gezackten Zähnen ähnelten.
Die Leute in Bamiyan hatten mir gesagt, dass er leicht zu finden sei — er lebte in dem einzigen Haus im Dorf, dessen Garten eine Mauer besaß. Die niedrige pockennarbige Lehmmauer umschloss auch ein winziges Haus, das im Grunde nicht mehr war als eine bessere Hütte. Barfüßige Kinder spielten auf der Straße, schlugen mit Stöcken nach einem zottigen Tennisball, und sie starrten zu mir herüber, als ich angefahren kam und den Motor abstellte. Ich klopfte an die Holztür und betrat den Garten, in dem es außer einem verdorrten Erdbeerbeet und einem kahlen Zitronenbaum sehr wenig gab. In einer Ecke, im Schatten einer Akazie, befand sich ein tandoor-Ofen, neben dem ein Mann hockte. Er war damit be schäftigt, Teigstücke, die er vorher gegen die Wände des tandoor schlug, auf einen großen Holzschieber zu lege. Als er mich sah, ließ er den Teig, den er gerade in der Hand hielt, fallen. Ich musste ihn fast zwingen, damit aufzuhören, mir die Hände zu küssen.