»Lass dich ansehen«, sagte ich. Er trat einen Schritt zurück. Er war inzwischen so groß — wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellte, reichte ich ihm trotzdem nur bis zum Kinn. Die Sonne hier draußen hatte seine Haut gegerbt und sie um etliches dunkler gefärbt, als ich es in Erinnerung hatte. Außerdem fehlten ihm mehrere Vor derzähne. An seinem Kinn wuchsen spärliche Haarstoppeln. Aber ansonsten hatte er immer noch dieselben schmalen grünen Augen, die Narbe an der Oberlippe, das runde Gesicht, dieses freundliche Lächeln. Du hättest ihn erkannt, Amir jan. Da bin ich mir sicher.
Wir gingen hinein. In einer Ecke des Raumes saß eine junge hellhäutige Hazara-Frau, die an einem Tuch nähte. Sie war offensichtlich schwanger. »Das hier ist meine Frau, Rahim Khan«, sagte Hassan stolz. »Ihr Name ist Farzana jan.« Sie war eine schüchterne Frau, sehr höflich. Sie sprach mit einer Stimme, die kaum lauter als ein Flüstern war, und sie wagte es nicht, ihre hübschen haselnussbraunen Augen zu heben, um meinem Blick zu begegnen. Aber so, wie sie Hassan anschaute, hätte er auch genauso gut im Arg auf dem Thron sitzen können.
»Wann kommt das Baby denn?«, fragte ich, nachdem wir in dem Raum aus ungebrannten Lehmziegeln Platz genommen hatten. Es gab kaum etwas darin, bloß einen durchgescheuerten Teppich, etwas Geschirr, zwei Matratzen und eine Laterne.
»Inshallah, diesen Winter«, erwiderte Hassan. »Ich bete um einen Jungen, der den Namen meines Vaters fortführen kann.«
»Wo wir gerade von Ali sprechen, wo steckt er denn?«
Hassan blickte zu Boden. Er erzählte mir, dass Ali und sein Cousin — dem das Haus gehört hatte — vor zwei Jahren außerhalb von Bamiyan auf eine Landmine getreten waren. Beide waren sofort tot gewesen. Eine Landmine. Ein typisch afghanischer Tod, nicht wahr, Amir jan? Und aus irgendeinem verrückten Grund war ich mir absolut sicher, dass es Alis rechtes Bein — sein verwachsenes, von der Polio verkümmertes Bein — gewesen war, das ihn schließlich doch noch im Stich gelassen hatte und auf diese Mine getreten war. Es erfüllte mich mit großem Kummer, von seinem Tod zu erfahren. Dein Vater und ich sind zusammen aufgewachsen, wie du weißt, und Ali war, solange ich mich zurückerinnern kann, immer bei ihm gewesen. Ich weiß noch, wie er, als wir noch Kinder waren, an Polio erkrankte und beinahe gestorben wäre. Dein Vater ist den ganzen Tag im Haus herumgelaufen und hat geweint.
Farzana bereitete uns shorwa mit Bohnen, Rüben und Kartoffeln zu. Wir wuschen uns die Hände und tunkten frisches naan aus dem tandoor in die Gemüsesuppe — es war das beste Essen, das ich in den letzten Monaten zu mir genommen hatte. Das war der Moment, in dem ich Hassan bat, zu mir nach Kabul zu ziehen. Ich erzählte ihm von dem Haus und dass ich mich nicht mehr allein darum kümmern konnte. Ich bot ihm an, ihn gut zu be zahlen, und sagte ihm, dass er dort ein komfortables Leben mit seiner khanum führen könne. Sie blickten einander an, ohne etwas zu sagen. Später, nachdem wir uns die Hände gewaschen und Farzana uns Weintrauben serviert hatte, erklärte mir Hassan, dass das Dorf nun seine neue Heimat sei; dass Farzana und er sich dort ein Leben aufgebaut hätten.
»Und Bamiyan ist nicht weit. Dort kennen wir auch einige Leute. Vergeben Sie mir, Rahim Khan. Ich hoffe, Sie verstehen das.«
»Aber gewiss«, sagte ich. »Du musst dich nicht entschuldigen. Ich verstehe sehr gut.«
Als wir nach dem Essen unseren Tee tranken, fragte Hassan nach dir. Ich erzählte ihm, dass du nun in Amerika lebst, ich aber nicht viel mehr wisse. Hassan wollte alles über dich wissen. Ob du verheiratet seist? Ob du Kinder hättest? Wie groß du nun seist? Ob du immer noch gern Drachen steigen ließest und ins Kino gingest? Ob du glücklich seist? Er erzählte mir, dass er sich mit einem alten Farsi-Lehrer in Bamiyan angefreundet habe, der ihm Lesen und Schreiben beigebracht habe. Wenn er dir einen Brief schriebe, würde ich den dann an dich weiterleiten?, fragte er mich, und: »Ob er mir wohl zurückschreiben wird?« Ich erzählte ihm, was ich von den wenigen Telefongesprächen, die ich mit deinem Vater geführt hatte, über dich wusste, aber ich konnte ihm die wenigsten seiner Fragen beantworten. Dann erkundigte er sich nach deinem Vater. Als ich ihm erzählte, was passiert war, vergrub er das Gesicht in den Händen und brach in Tränen aus. Er weinte für den Rest des Abends wie ein Kind.
Sie bestanden darauf, dass ich die Nacht bei ihnen verbrachte. Farzana richtete mir ein Lager und stellte mir ein Glas Brunnenwasser hin, falls ich in der Nacht Durst bekommen sollte. Die ganze Nacht hindurch hörte ich sie mit Hassan flüstern, vernahm immer wieder sein Schluchzen.
Am Morgen erklärte er mir, dass sie sich entschlossen hätten, zu mir nach Kabul zu ziehen.
»Ich hätte nicht kommen sollen«, sagte ich. »Du hattest Recht, Hassan jan. Du hast dir hier ein zendagi, ein Leben, aufgebaut. Es war anmaßend von mir, einfach so hier aufzutauchen und dich zu bitten, dies alles aufzugeben. Ich bin es, der um Vergebung bitten muss.«
»Wir haben nicht so viel, was wir aufgeben könnten, Rahim Khan«, erwiderte Hassan. Seine Augen waren immer noch rot und verquollen. »Wir werden mit Ihnen gehen. Wir werden Ihnen helfen, auf das Haus aufzupassen.«
»Bist du dir da auch absolut sicher?«
Er nickte und ließ den Kopf hängen. »Aga Sahib war wie ein zweiter Vater für mich… Gott möge ihm Frieden geben.«
Sie häuften ihre Habseligkeiten in einige alte Lumpen und knoteten die Ecken zusammen. Wir luden das Ganze in den Buick. Hassan stand auf der Türschwelle des Hauses und hielt den Koran in die Höhe, den wir alle küssten, ehe wir unter ihm hindurchtraten. Dann machten wir uns auf den Weg nach Kabul. Ich erinnere mich noch, dass sich Hassan, als ich losfuhr, umdrehte, um einen letzten Blick auf ihr Heim zu werfen. Als wir nach Kabul kamen, stellte ich fest, dass Hassan nicht die Absicht hatte, in das Haus einzuziehen. Farzana und er brachten ihre Habseligkeiten in die Hütte hinten im Garten, wo er zur Welt gekommen war. Ich bat sie, in eines der Gästezim mer oben zu ziehen, aber davon wollte Hassan nichts wissen. »Was soll denn Amir Aga denken?«, sagte er zu mir. »Was soll er denken, wenn er nach dem Krieg nach Kabul zurückkehrt und herausfindet, dass ich seinen Platz im Haus eingenommen habe?« Die nächsten vierzig Tage trug er zum Zeichen der Trauer um deinen Vater Schwarz.
Ich wollte es zwar nicht, aber die beiden erledigten das ganze Kochen und Saubermachen. Hassan kümmerte sich um die Blumen im Garten, goss sie täglich, zupfte die welken Blätter ab und pflanzte Rosenbüsche, strich die Mauern. Im Haus kehrte er Zimmer, in denen seit Jahren niemand geschlafen hatte, säuberte Badezimmer, in denen niemand gebadet hatte. Als bereitete er das Haus für jemandes Rückkehr vor. Erinnerst du dich noch an die Mauer hinter der Reihe mit dem Mais, die dein Vater gepflanzt hatte, Amir jan? Die ihr beide immer »Die Mauer des kränkelnden Maises« genannt habt? Eine Rakete hatte in jenem Frühherbst eines Nachts einen Teil der Mauer zerstört. Hassan baute die Mauer mit eigenen Händen, Stein für Stein, wieder auf. Ich weiß nicht, was ich ohne ihn angefangen hätte.