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Später in jenem Herbst brachte Farzana ein Mädchen zur Welt. Es war eine Totgeburt. Hassan küsste das leblose Gesicht des Babys, und wir vergruben es im Garten, in der Nähe der Heckenrosen. Wir bedeckten den kleinen Hügel mit Pappelblättern. Ich sprach ein Gebet für das arme kleine Wesen. Farzana blieb den ganzen Tag in der Hütte und klagte — das Wehklagen einer Mutter ist herzzerreißend, Amir jan. Ich bete zu Allah, dass du es nie mals hören musst.

Draußen vor den Mauern dieses Hauses tobte ein Krieg. Aber wir drei schafften uns in dem Haus deines Vaters unsere kleine Zuflucht. In den späten Achtzigern wurden meine Augen immer schlechter, und so ließ ich mir von Hassan aus den Büchern deiner Mutter vorlesen. Wir saßen in der Halle, am Ofen, und Hassan las mir aus dem Masnawi-Epos oder aus Werken von Khayyam vor, während Farzana in der Küche kochte. Und jeden Morgen legte Hassan eine Blume auf den kleinen Hügel in der Nähe der Heckenrosen.

Anfang des Jahres 1990 wurde Farzana erneut schwanger. Im selben Jahr, mitten im Sommer, klopfte eines Morgens eine Frau, die in eine himmelblaue Burkha gehüllt war, ans vordere Tor. Sie schwankte, als wäre sie zu schwach, um zu stehen. Ich fragte, was sie wolle, aber sie antwortete nicht.

»Wer sind Sie?«, fragte ich. Doch sie brach dort in der Auffahrt zusammen. Ich schrie nach Hassan, und er half mir, sie ins Haus zu tragen. Wir legten sie im Wohnzimmer auf das Sofa und zogen ihr die Burkha aus. Darunter fanden wir eine zahnlose Frau mit strähnigem grauem Haar und Wunden an den Armen. Sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Aber das Schlimm ste war ihr Gesicht. Jemand hatte sich mit einem Messer darüber hergemacht und… Amir Jan, die Narben verliefen kreuz und quer. Eine reichte von der Wange bis zum Haaransatz hinauf, und das Messer hatte ihr linkes Auge nicht ausgespart. Es sah einfach schrecklich aus. Ich tupfte ihr mit einem feuchten Tuch die Stirn ab, und sie öffnete die Augen. »Wo ist Hassan?«, flüsterte sie.

»Ich bin hier«, sagte er. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie.

Ihr gesundes Auge wanderte zu ihm hinüber. »Ich bin von weit hergekommen, um zu sehen, ob du in Wirklichkeit auch so schön bist wie in meinen Träumen. Und, das bist du. Schöner noch.« Sie zog seine Hand an ihr narbiges Gesicht. »Bitte lächle für mich.«

Als Hassan der alten Frau den Wunsch erfüllte, begann sie zu weinen. »Du hast gelächelt, als ich dir das Leben geschenkt habe, hat man dir das jemals erzählt? Und ich wollte dich nicht einmal in meinen Armen halten. Allah möge mir vergeben, ich wollte dich nicht einmal in meinen Armen halten.«

Keiner von uns hatte Sanaubar wiedergesehen, seit sie im Jahre 1964, kurz nach Hassans Geburt, mit einer Gruppe von Sängern und Tänzern davongelaufen war. Du bist ihr nie begegnet, Amir, aber in ihrer Jugend war sie eine wahre Schönheit. Wenn sie lachte, hatte sie Grübchen in den Wangen, und ihr Gang machte die Männer verrückt. Niemand — ob Mann oder Frau —, der auf der Straße an ihr vorüberging, konnte die Augen von ihr wenden. Und nun…

Hassan ließ ihre Hand fallen und rannte aus dem Haus. Ich lief hinter ihm her, aber er war zu schnell für mich. Ich sah, wie er den Hügel hinaufhastete, wo ihr zwei im mer gespielt habt, und seine Füße wirbelten wahre Staubwolken auf. Ich ließ ihn ziehen. Ich saß den ganzen Tag bei Sanaubar, während sich die Farbe des Himmels von strahlendem Blau in Violett verwandelte. Als die Dunkelheit anbrach und die Wolken im Mondlicht badeten, war Hassan immer noch nicht zurückgekehrt. Sanaubar rief unter Tränen, dass ihre Rückkehr ein Fehler gewesen sei, vielleicht schlimmer noch als ihr Verschwinden. Aber ich überredete sie zu bleiben. Hassan würde wiederkommen, das wusste ich.

Er kehrte am nächsten Morgen müde und erschöpft zurück, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen. Er nahm Sanaubars Hand in seine Hände und erklärte ihr, sie könne weinen, wenn ihr danach sei, aber sie brauche es nicht, denn sie sei nun zu Hause, zu Hause bei ihrer Familie. Er berührte die Narben in ihrem Gesicht und strich ihr übers Haar.

Hassan und Farzana pflegten sie gesund. Sie fütterten sie und wuschen ihre Kleidung. Ich gab ihr eins der Gästezimmer. Manchmal, wenn ich aus dem Fenster des Arbeitszimmers in den Garten blickte, sah ich Hassan und seine Mutter nebeneinander knien und sich beim Tomatenpflücken oder beim Beschneiden der Rosenbüsche unterhalten — sie taten, was sie all die Jahre nicht hatten tun können. Soweit ich weiß, hat er sie nie gefragt, wo sie gewesen ist oder warum sie ihre Familie verlassen hat, und sie hat es nie erzählt. Manche Geschichten müssen wohl nicht erzählt werden.

Es war Sanaubar, die Hassans Sohn in jenem Winter 1990 auf die Welt holte. Es hatte noch nicht zu schneien begonnen, aber die Winterwinde bliesen durch den Garten, drückten die Köpfe der Blumen zu Boden und fuhren raschelnd durch die Blätter. Ich weiß noch, wie Sanaubar aus der Hütte kam und ihren Enkelsohn, der in eine Wolldecke gehüllt war, in den Armen hielt. Sie stand strahlend unter einem bedeckten, grauen Himmel, die Tränen liefen ihr über die Wangen, der eiskalte Wind blies ihr durch das Haar, und sie hielt diesen Jungen in ihren Armen, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Sie reichte ihn Hassan, der ihn mir reichte, und ich sang das Ayat-ul-kursi-Gebet in das Ohr des kleinen Jungen.

Sie nannten ihn Suhrab, nach Hassans Lieblingshelden aus dem Shahname, wie du ja weißt, Amir jan. Er war ein wunderschöner kleiner Junge, so süß, und er besaß das gleiche Naturell wie sein Vater. Du hättest Sanaubar mit dem Jungen sehen sollen, Amir jan. Er wurde ihr Ein und Alles. Sie nähte Kleider für ihn, bastelte ihm Spielzeug aus Holzstückchen und Lumpen und getrocknetem Gras. Wenn er Fieber bekam, blieb sie die ganze Nacht auf und fastete drei Tage. Sie verbrannte isfand für ihn in einer Bratpfanne, um nazar, den bösen Blick, zu vertreiben. Als Suhrab zwei Jahre alt war, nannte er sie Sasa. Die beiden waren unzertrennlich.

Sie erlebte noch, wie er vier Jahre alt wurde, und dann, eines Morgens, wachte sie einfach nicht mehr auf. Sie machte einen ruhigen, friedlichen Eindruck, als hätte es ihr nichts ausgemacht, jetzt zu sterben. Wir begruben sie auf dem Friedhof, an dem Abhang, wo der Granatapfelbaum steht, und ich sprach auch für sie ein Gebet. Der Verlust traf Hassan hart — es ist immer schlimmer, etwas zu besitzen und dann zu verlieren, als es erst gar nicht zu besitzen. Aber viel schlimmer noch traf es den kleinen Suhrab. Er wanderte tagelang auf der Suche nach Sasa im Haus herum. Aber du weißt ja, wie kleine Kinder sind, sie vergessen so schnell.

Inzwischen — wir schrieben jetzt das Jahr 1995 — waren die Shorawi besiegt und längst verschwunden, und Kabul gehörte Massoud, Rabbani und den Mudjaheddin, die sich gegenseitig erbitterte Kämpfe um die Macht lieferten. Nie wusste man, ob man am Ende des Tages noch leben würde. Unsere Ohren gewöhnten sich an das Pfeifen der heranfliegenden Granaten, das Donnern des Ge fechtsfeuers, und unsere Augen gewöhnten sich an den Anblick von Männern, die Leichen unter Trümmern hervorzogen. Kabul war in jenen Tagen wahrhaftig der reinste Vorhof der Hölle, Amir jan. Aber Allah war uns dennoch freundlich gesinnt: Das Wazir-Akbar-Khan-Viertel wurde nicht so häufig angegriffen, und so erging es uns nicht ganz so schlimm wie einigen anderen Vierteln.

Wenn in jenen Tagen einmal weniger Raketen abgefeuert wurden und nicht ganz so viele Schüsse fielen, ging Hassan mit Suhrab in den Zoo, damit er sich Marjan, den Löwen, ansehen konnte, oder sie gingen ins Kino. Hassan brachte ihm bei, wie man eine Schleuder benutzt, und Suhrab stellte sich sehr geschickt damit an. Mit acht Jahren konnte er von der Terrasse aus einen Kiefernzapfen treffen, der in der Mitte des Gartens aufrecht auf einem Eimer platziert worden war. Hassan brachte ihm auch Lesen und Schreiben bei — sein Sohn sollte nicht ungebildet aufwachsen wie er. Ich begann an dem kleinen Jungen zu hängen — ich hatte gesehen, wie er die ersten Schritte tat, hatte ihn sein erstes Wort sprechen hören. Ich kaufte Suhrab Kinderbücher in dem Buchladen neben dem Park-Kino — das sie inzwischen auch zerstört haben —, und Suhrab las sie so schnell durch, dass ich kaum genug Nachschub besorgen konnte. Er erinnerte mich an dich, Amir jan, du hast, als du klein warst, auch unheimlich gern gelesen. Manchmal habe ich ihm abends etwas vorgelesen, ihm Rätsel aufgegeben und Kartenspielertricks beigebracht. Ich vermisse ihn schrecklich.