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Im Winter nahm Hassan seinen Sohn mit zum Drachenlaufen. Es gab nicht annähernd so viele Drachenturniere wie in der guten alten Zeit — niemand fühlte sich draußen auf Dauer sicher —, aber hin und wieder wurde ein Kampf veranstaltet. Hassan setzte sich Suhrab auf die Schultern und trabte mit ihm durch die Straßen, jagte Drachen hinterher, kletterte auf Bäume, in denen sie gelandet waren. Weißt du noch, was für ein guter Drachenläufer Hassan einmal gewesen ist? Und er hatte nichts davon verlernt. Als der Winter zu Ende ging, hängten Hassan und Suhrab all die Drachen, die sie in der kalten Jahreszeit erlaufen hatten, an die Wände des großen Flurs. Wie Gemälde.

Ich habe dir ja erzählt, wie wir alle 1996 gefeiert haben, als die Taliban hereinrollten und den täglichen Kämpfen ein Ende bereiteten. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend nach Hause kam und Hassan in der Küche antraf, wo er Radio hörte. Sein Gesicht war ernst. Ich fragte ihn, was los sei, aber er schüttelte nur den Kopf. »Gott stehe jetzt den Hazara bei, Rahim Khan Sahib«, sagte er.

»Der Krieg ist vorbei«, erwiderte ich. »Es wird endlich Frieden geben, inshallah, und Glück und Ruhe. Keine Raketen mehr, kein Töten, keine Beerdigungen!« Aber er schaltete nur das Radio aus und fragte, ob er noch etwas für mich tun könne, bevor er zu Bett ging.

Einige Wochen später verboten die Taliban die Drachenkämpfe. Und zwei Jahre später, 1998, verübten sie ein Massaker an den Hazara in Mazar-e-Sharif.

17

Rahim Khan streckte langsam die Beine aus und lehnte sich vorsichtig und behutsam wie jemand, der bei jeder Bewegung vom Schmerz durchbohrt wird, an die nackte Wand. Draußen schrie ein Esel, und jemand rief etwas auf Urdu. Die Sonne ging langsam unter, glitzerte rot durch die Lücken zwischen den baufälligen Mauern.

Das ungeheure Ausmaß dessen, was ich in jenem Winter und dem darauf folgenden Sommer getan hatte, wurde mir aufs Neue bewusst. Namen schwirrten mir durch den Kopf: Hassan, Suhrab, Ali, Farzana, Sanaubar. Als Rahim Khan Alis Namen aussprach, war es, als würde man eine alte Spieldose öffnen und eine Melodie zum Leben erwecken, die man seit Jahren nicht mehr vernommen hatte: Wen hast du denn heute gefressen, Babalu? Wen hast du heute gefressen, du schlitzäugiger Esel! Ich versuchte mir Alis erstarrtes Gesicht vorzustellen, versuchte seine sanften Augen wirklich vor mir zu sehen, aber die Zeit ist manchmal ein gieriges Ding: Sie raubt die Ein zelheiten, will sie ganz für sich allein behalten.

»Lebt Hassan jetzt immer noch in dem Haus?«, fragte ich.

Rahim Khan hob die Teetasse an seine trockenen Lippen und nahm einen Schluck. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Brusttasche seiner Weste und reichte ihn mir. »Für dich.«

Ich riss den verschlossenen Umschlag auf. Darin fand ich ein Polaroidfoto und einen gefalteten Brief. Ich starrte das Foto eine geschlagene Minute lang an.

Ein Mann mit einem weißen Turban und einem grün gestreiften chapan stand mit einem kleinen Jungen vor einem schmiedeeisernen Tor. Von der linken Seite fiel schräg das Sonnenlicht ins Bild und warf einen Schatten auf die eine Hälfte seines runden Gesichts. Er lächelte blinzelnd in die Kamera und entblößte dabei einige fehlende Vorderzähne. Selbst auf dem verwackelten Pola roidfoto strahlte der Mann in dem chapan Selbstsicherheit und Unbefangenheit aus. Es lag wohl an der Art und Weise, wie er mit leicht gespreizten Beinen dastand, die Arme locker auf der Brust gekreuzt, den Kopf ein wenig Richtung Sonne geneigt. Aber hauptsächlich lag es daran, wie er lächelte. Wenn man sich dieses Foto ansah, konnte man zu dem Schluss kommen, dies sei ein Mann, der glaubte, das Schicksal habe es gut mit ihm gemeint. Rahim Khan hatte Recht, ich hätte ihn sofort erkannt, wenn er mir auf der Straße begegnet wäre. Der kleine Junge war barfuß, hatte einen Arm um den Oberschenkel des Mannes geschlungen, und sein rasierter Kopf ruhte an der Hüfte seines Vaters. Auch er lächelte blinzelnd in die Kamera.

Ich faltete den Brief auseinander. Er war auf Farsi geschrieben. Kein einziger Punkt war ausgelassen worden, kein Strich vergessen, keine Buchstaben ineinander gerutscht — die Handschrift hatte etwas Kindliches in ihrer Ordentlichkeit. Ich begann zu lesen:

Im Namen Allahs des Allmächtigen und des Barmherzigen sende ich dir, Amir Aga, meine respektvollsten Grüße.

Farzana jan, Suhrab und ich beten darum, dass dich unser Brief bei guter Gesundheit und im Schein der Gnade Allahs erreicht. Bitte richte Rahim Khan Sahib meine tiefe Dankbarkeit aus, dass er ihn dir überbringt. Ich hoffe sehr, dass ich eines Tages einen deiner Briefe in meinen Händen halten werde und etwas über dein Leben in Amerika erfahren kann. Vielleicht wird sogar eine Fotografie von dir unsere Augen erfreuen. Ich habe Farzana jan und Suhrab so viel von dir erzählt. Wie wir zusammen aufgewachsen sind, zusammen gespielt haben und durch die Straßen gelaufen sind. Sie lachen, wenn sie von all dem Unfug hören, den wir beide angestellt haben!

Amir Aga, leider ist das Afghanistan unserer Kindheit lange tot. Es gibt keine Freundlichkeit, keine Güte mehr in diesem Land, und man kann dem Morden nicht entkommen. Mord und Totschlag, wohin man auch blickt. In Kabul wohnt überall die Angst — in den Straßen, im Stadion, auf den Märkten —, sie ist ein Teil unseres Lebens hier, Amir Aga. Die Bestien, die über unser watan herrschen, scheren sich nicht um Anstand und Menschenwürde.

Vor ein paar Tagen habe ich Farzana jan auf den Basar begleitet, um ein paar Kartoffeln und etwas naan zu kaufen. Sie fragte den Händler, wie viel die Kartoffeln kosteten, aber er hörte sie nicht, ich glaube, er war ein wenig taub. Also stellte sie ihre Frage lauter, und plötzlich kam ein junger Talib auf sie zugerannt und schlug ihr mit einem Holzstock auf den Oberschenkel. Er schlug so fest zu, dass sie hinfiel. Er schrie sie an und fluchte und rief, dass es das Ministerium für Laster und Tugend nicht erlaube, dass eine Frau die Stimme erhebt. Sie hatte tagelang einen großen violetten Fleck auf dem Oberschenkel, aber was blieb mir anderes übrig, als daneben zu stehen und zuzusehen, wie meine Frau geschlagen wurde? Hätte ich gekämpft, hätte mir dieser Hund sicherlich mit Freude eine Kugel in den Leib gejagt! Und was wäre dann aus meinem Suhrab geworden? Die Straßen sind schon voll genug mit hungrigen Waisenkindern, und ich danke Allah jeden Tag, dass ich am Leben bin, und das nicht etwa, weil ich Angst vor dem Tod habe, sondern weil so meine Frau einen Mann hat und mein Sohn kein Waisenjunge ist.

Wenn du Suhrab doch nur sehen könntest! Er ist ein guter Junge. Rahim Khan Sahib und ich haben ihm Lesen und Schreiben beigebracht, damit er nicht so unwissend aufwächst wie sein Vater. Und wie er mit der Schleuder umgehen kann! Manchmal nehme ich ihn mit nach Kabul und kaufe ihm Süßigkeiten. Es gibt immer noch einen Affen-Mann in Shar-e-Nau, und wenn wir zu ihm gehen, bezahle ich ihn dafür, dass er seinen Affen für Suhrab tanzen lässt.

Du solltest sehen, wie er lacht! Wir beide marschieren oft zu dem Friedhof auf dem Hügel. Weißt du noch, wie wir unter dem Granatapfelbaum dort oben gesessen und im Shahname gelesen haben? Die Dürren haben den Hügel ausgetrocknet, und der Baum hat schon seit Jahren keine Früchte mehr getragen, aber Suhrab und ich sitzen immer noch in seinem Schatten, und ich lese ihm aus dem Shahname vor. Ich muss dir wohl nicht erst sagen, dass sein Lieblingsteil der ist, in dem sein Namensvetter vorkommt, der, in dem es um Rostem und Suhrab geht. Es wird nicht mehr lange dauern, und er kann selbst in dem Buch lesen. Ich bin ein sehr stolzer und glücklicher Vater.