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Amir Aga,

Rahim Khan Sahib ist sehr krank. Er hustet den ganzen Tag, und wenn er sich den Mund abwischt, ist Blut an seinem Ärmel. Er hat stark abgenommen, und ich wünschte, er würde etwas von der shorwa mit Reis essen, die Farzana jan für ihn kocht. Aber er nimmt immer nur einen oder zwei Bissen zu sich, und selbst das wohl nur aus Höflichkeit ihr gegenüber. Ich mache mir so große Sorgen um diesen mir so teuren Menschen, ich bete jeden Tag für ihn. Er reist in ein paar Tagen nach Pakistan, umdort einige Ärzte aufzusuchen, und ich hoffe, dass er mit guten Nachrichten zurückkehren wird. Aber in meinem Herzen fürchte ich um ihn. Farzana jan und ich haben dem kleinen Suhrab gesagt, dass es Rahim Khan Sahib bald wieder gut gehen wird. Was können wir anderes tun? Er ist doch erst zehn Jahre alt und liebt Rahim Khan Sahib über alles. Sie stehen einander sehr nah. Rahim Khan Sahib hat ihn immer auf den Basar mitgenommen und ihm Ballons und Kekse gekauft, aber dazu ist er nun zu schwach. Ich träume in letzter Zeit sehr viel, Amir Aga. Manchmal sind es Albträume, in denen erhängte Leichen in Fußballstadien mit blutrotem Gras verfaulen. Dann erwache ich atemlos und in Schweiß gebadet. Aber meistens sind es schöne Träume, und dafür danke ich Allah. Ich träume davon, dass es Rahim Khan Sahib wieder gut geht. Ich träume davon, dass mein Sohn zu einem guten Menschen heranwächst, einem freien Menschen und einem wichtigen Menschen. Ich träume davon, dass wieder lawla-Blumen in den Straßen Kabuls blühen und rubab-Musik in den Samowar-Häusern gespielt wird. Und dass Drachen am Himmel fliegen. Und ich träume davon, dass du eines Tages wieder nach Kabul zurück kehrst, um das Land unserer Kindheit zu besuchen. Wenn du das tust, wirst du hier einen alten treuen Freund vorfinden, der auf dich wartet.

Möge Allah immer mit dir sein,

Hassan

Ich las den Brief zweimal. Dann faltete ich ihn und betrachtete erneut für eine ganze Weile das Foto, ehe ich schließlich beides einsteckte. »Wie geht es ihm?«, fragte ich.

»Dieser Brief wurde vor sechs Monaten geschrieben, wenige Tage bevor ich nach Peshawar aufgebrochen bin«, erwiderte Rahim Khan. »Das Foto habe ich am Tag vor meiner Abreise aufgenommen. Einen Monat nach meiner Ankunft in Peshawar erhielt ich einen Telefonanruf von meinem Nachbarn in Kabul. Er erzählte mir die ganze Geschichte: Kurz nach meiner Abreise hatte sich das Gerücht verbreitet, dass eine Hazara-Familie allein in dem großen Haus im Wazir-Akbar-Khan-Viertel lebt — oder so haben es die Taliban jedenfalls später behauptet. Zwei Beamte der Taliban kamen, um die Angelegenheit zu untersuchen und Hassan zu befragen. Sie beschuldigten ihn der Lüge, als er ihnen mitteilte, dass er bei mir wohnte. Und das, obwohl viele der Nachbarn — einschließlich des Nachbarn, der mich anrief — seine Geschichte bestätigten. Die beiden Taliban behaupteten, dass er ein Lügner und ein Dieb sei wie alle Hazara, und befahlen ihm, bis zum Sonnenuntergang mit seiner Fami lie das Haus zu verlassen. Hassan protestierte. Aber mein Nachbar sagte, die Taliban hätten das große Haus angesehen wie — wie hat er sich noch einmal ausgedrückt? — ja, wie ›Wölfe, die eine Herde von Schafen ansehen‹. Sie erklärten Hassan, dass sie dort einziehen würden, angeblich, um bis zu meiner Rückkehr darauf aufzupassen. Hassan protestierte wieder. Also haben sie ihn auf die Straße hinausgebracht…«

»Nein«, hauchte ich.

»…und ihm befohlen, sich hinzuknien…«

»Nein. Oh Gott, nein.«

»…und haben ihm von hinten eine Kugel in den Kopf geschossen.«

»Nein.«

»…Farzana kam schreiend aus dem Haus gelaufen und ist auf sie losgegangen…«

»Nein.«

»…da haben sie auch sie erschossen. In Notwehr, wie sie nachher behauptet haben…«

Aber ich brachte nicht mehr als ein Flüstern zustande: »Nein, nein, nein«, sagte ich unaufhörlich vor mich hin.

Meine Gedanken kehrten immer wieder in jenes Krankenhauszimmer zurück, in dem Hassan nach seiner Hasenschartenoperation gelegen hatte. Baba, Rahim Khan, Ali und ich hatten uns um Hassans Bett versammelt und zugesehen, wie er seine neue Oberlippe in dem Handspiegel betrachtet hatte. Jetzt waren alle, die in jenem Zimmer gewesen waren, entweder tot oder todkrank. Außer mir.

Dann wieder sah ich andere Bilder vor mir: ein Mann in einer Weste mit Fischgrätmuster, der den Lauf einer Kalaschnikow an Hassans Hinterkopf drückt. Die Explosion hallt durch die Straße, in der das Haus meines Vaters steht. Hassan sinkt auf den Asphalt, und sein Leben, das so erfüllt war von unerwiderter Anhänglichkeit, entweicht wie die vom Wind davongetragenen Drachen, hinter denen er einst herjagte.

»Die Taliban zogen in das Haus ein«, sagte Rahim Khan. »Sie gaben vor, einen Eindringling zur Räumung gezwungen zu haben. Die Ermordung von Hassan und Farzana wurde als ein Fall von Selbstverteidigung abgetan. Niemand verlor ein Wort darüber. Ich denke, der Grund war hauptsächlich die Furcht vor den Taliban. Aber es wollte auch niemand irgendetwas für zwei Hazara-Dienstboten riskieren.«

»Was haben sie mit Suhrab gemacht?«, fragte ich. Ich fühlte mich erschöpft, ausgelaugt. Rahim Khan wurde von einem Hustenanfall geschüttelt, der lange Zeit dauerte. Als er schließlich aufblickte, war sein Gesicht gerötet, und die Augen waren blutunterlaufen. »Ich habe gehört, dass er sich in einem Waisenhaus irgendwo in Karteh-Seh befindet. Amir jan…«, er hustete wieder. Als sich der Husten legte, sah er älter aus als noch vor wenigen Augenblicken, ganz so, als hätte ihn der Hustenanfall altern lassen. »Amir jan, ich habe dich hierher gerufen, weil ich dich noch einmal sehen wollte, bevor ich sterbe, aber das ist nicht alles.«

Ich sagte nichts. Ich glaubte schon zu wissen, was nun kommen würde.

»Ich möchte, dass du nach Kabul fährst. Ich möchte, dass du Suhrab hierher bringst«, sagte er.

Ich bemühte mich, die rechten Worte zu finden. Ich hatte ja kaum Zeit gehabt, mich mit der Tatsache abzufinden, dass Hassan tot war.

»Bitte hör mich an. Ich kenne ein amerikanisches Ehepaar namens Thomas und Betty Caldwell hier in Peshawar. Sie sind Christen und betreiben eine kleine Wohl tätigkeitsorganisation, die sich durch Privatspenden finanziert. Sie geben afghanischen Kindern, die ihre Eltern verloren haben, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen. Ich habe das Haus gesehen. Es ist sauber und sicher, man kümmert sich gut um die Kinder, und die Caldwells sind freundliche Leute. Sie haben mir bereits versichert, dass Suhrab bei ihnen willkommen wäre und…«

»Rahim Khan, das kann doch nicht dein Ernst sein.«

»Kinderseelen zerbrechen leicht, Amir jan, sie sind zerbrechlich wie Glas. Kabul ist schon voll von solchen zerbrochenen Seelen, und ich möchte nicht, dass Suhrab das gleiche Schicksal widerfährt.«

»Rahim Khan, ich möchte nicht nach Kabul fahren. Ich kann das nicht!«, sagte ich.

»Suhrab ist ein begabter kleiner Junge. Wir können ihm hier ein neues Leben und neue Hoffnung bei Menschen bieten, die ihm ihre Liebe schenken würden. Thomas Aga ist ein guter Mann und Betty khanum so gütig; du solltest sehen, wie sie mit diesen Waisenkindern um geht.«

»Warum ich? Warum kannst du nicht jemanden dafür bezahlen, dorthin zu fahren. Ich werde den finanziellen Teil übernehmen, wenn es eine Geldfrage ist.«