Ich hatte Farid auf Vermittlung von Rahim Khan in Peshawar kennen gelernt. Durch Rahim Khan erfuhr ich auch, dass Farid erst neunundzwanzig war, obwohl er seiner grimmigen Miene und der tiefen Stirnfalten wegen gut und gern zwanzig Jahre älter aussah. In Mazar-e-Sharif zur Welt gekommen, war er im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie nach Jalalabad gezogen. Mit vierzehn schloss er sich, wie sein Vater auch, dem Djihad gegen die Shorawi an. Zwei Jahre lang kämpften sie im Panjshir-Tal, dann wurde sein Vater von einem Helikopter unter Beschuss genommen und getötet. Farid hatte zwei Frauen und fünf Kinder, die noch lebten. Von Rahim Khan erfuhr ich, dass seine beiden jüngsten Töchter vor wenigen Jahren vor den Toren Jalalabads von einer Landmine getötet worden waren, von derselben Mine, der auch seine Zehen und die drei Finger der linken Hand zum Opfer gefallen waren. Danach war er mit seinen Frauen und den Kindern nach Peshawar umgezogen.
»Kontrolle«, knurrte Farid. Ich lehnte mich zurück, verschränkte die Arme über der Brust und vergaß für einen Moment meine Übelkeit. Grund zur Besorgnis gab es nicht. Die beiden pakistanischen Milizionäre kamen auf unseren schrottreifen Landcruiser zu, warfen einen flüchtigen Blick ins Innere und winkten uns weiter.
Farids Name stand ganz oben auf der Liste, die Rahim Khan und ich zur Planung meiner Reise zusammengestellt hatten. Darüber hinaus war zur Erinnerung auf ihr vermerkt: Dollar in Kaldar und Afghani eintauschen, landesübliche Kleidung und einen pakol anschaffen — Dinge, die ich während meiner jungen Jahre in Afghanistan ironischerweise nie getragen hatte —, das Polaroidfo to von Hassan und Suhrab einstecken und, was vielleicht am wichtigsten war, einen künstlichen Bart besorgen, schwarz und bis auf die Brust herabreichend, ganz im Sinne der Scharia beziehungsweise im Sinne ihrer Taliban’schen Auslegung. Rahim Khan kannte einen Perückenmacher in Peshawar, der sich auf die Herstellung solcher Bärte spezialisiert hatte. Nachgefragt wurden sie vor allem von Kriegsberichterstattern aus dem Westen.
Rahim Khan hätte es lieber gesehen, wenn ich noch ein paar Tage länger geblieben wäre, um gründlicher planen zu können. Mir war es allerdings wichtig, so früh wie möglich aufzubrechen. Ich hatte Sorge, dass ich mir alles noch einmal anders überlegen würde. Womöglich hätte ich die Sache auf die lange Bank geschoben, in Frage gestellt, mir den Kopf zermartert und am Ende davon Abstand genommen. Ich fürchtete, dass ich, an mein angenehmes Leben in Amerika gewöhnt, aufstecken und es vorziehen würde, mich in den großen, breiten Fluss zurückzubegeben, um zu vergessen und all das, was ich in den letzten Tagen erfahren hatte, auf den Grund absinken zu lassen. Ich fürchtete, dass ich mich forttreiben lassen könnte von dem, was ich tun musste. Von Hassan. Von der Vergangenheit, die sich zurückgemeldet hatte. Und von dieser letzten Gelegenheit zur Versöhnung mit mir selbst. Also machte ich mich schleunigst auf den Weg. Soraya von meiner Rückkehr nach Afghanistan in Kenntnis zu setzen war ausgeschlossen. Hätte ich sie informiert, wäre sie mit dem nächsten Flugzeug nach Pakistan gekommen.
Kaum hatten wir die Grenze passiert, zeigten sich allenthalben Bilder der Armut. Die kleinen Ortschaften entlang der Straße waren in erbärmlichem Zustand; Lehmhäuser verfielen, und manche Hütten bestanden lediglich aus vier Holzpfosten und zerfetzten Tüchern, die als Dach herhalten mussten. Vor den Hütten jagten Kinder, in Lumpen gekleidet, einem Fußball hinterher. Ein paar Kilometer weiter sah ich eine Hand voll Männer auf der Ruine eines alten sowjetischen Panzers hocken, mit Umhängen, deren Saum im Wind flatterte. Hinter ihnen trug eine Frau in brauner Burkha einen schweren Tonkrug auf der Schulter und ging auf holprigem Pfad einer Reihe ärmlicher Lehmhütten entgegen.
»Seltsam«, sagte ich.
»Was?«
»Ich bin in meinem Heimatland und komme mir vor wie ein Tourist«, antwortete ich mit Blick auf eine kleine Herde ausgezehrter Ziegen. Farid lachte und schnippte seine Zigarette nach draußen. »Betrachtest du dieses Land immer noch als deine Heimat?«
»Ja, und das wird auch immer so sein«, antwortete ich in einem Ton, der nach Verteidigung klang, was mich selbst überraschte.
»Nach zwanzig Jahren in Amerika?« Farid riss energisch das Lenkrad herum, um einem Schlagloch von der Größe und Tiefe eines Waschzubers auszuweichen.
Ich nickte. »Ich bin in Afghanistan aufgewachsen.«
Farid kicherte wieder.
»Was soll das?«
»Nichts für ungut«, murmelte er.
»Antworte. Was soll das Gekichere?«
Im Rückspiegel sah ich seine Augen aufblitzen. »Willst du’s wirklich wissen?«, sagte er mit spöttischem Unterton. »Ich stelle mir vor: Wahrscheinlich wohnst du in einem großen ein- oder zweistöckigen Haus mit einem schönen Garten, den dein Gärtner mit Blumen und Obstbäumen bepflanzt hat. Das Ganze hübsch eingezäunt, versteht sich. Schon dein Vater hat einen amerikanischen Schlitten gefahren. Ihr hattet Dienstboten, wahrscheinlich Hazara, die das Haus geschmückt haben, wenn deine Eltern wieder mal eine ihrer schicken mehmanis feiern wollten, mit Freunden, die mit ihren Reisen durch Europa und Amerika geprahlt haben. Ich setze die Augen meines Erstgeborenen darauf, dass du hier und jetzt zum ersten Mal einen pakol trägst.« grinsend zeigte er mir zwei Reihen frühzeitig faulender Zähne. »Stimmt’s?«
»Warum sagst du das?«
»Du hast danach gefragt.« Er spuckte aus und deutete auf einen alten in Lumpen gekleideten Mann, der mit einem großen Sack voller Gras über einen Trampelpfad schlurfte. »Das ist das wahre Afghanistan, Aga Sahib. Das Afghanistan, wie ich es kenne. Du? Du bist hier immer nur Tourist gewesen. Du wusstest es nur nicht.«
Rahim Khan hatte mich gewarnt: Von denen, die im Land geblieben waren und in den Kriegen gekämpft hatten, war für mich kein herzliches Willkommen zu erwarten. »Tut mir Leid, das mit deinem Vater«, sagte ich. »Auch das mit deinen Töchtern und mit deiner Hand.«
»Dein Beileid bedeutet mir nichts«, sagte er kopfschüttelnd. »Warum bist du hergekommen? Um Babas Ländereien zu verkaufen? Das Geld einzusacken und schnell zur Mutter nach Amerika zurückzukehren?«
»Meine Mutter starb bei meiner Geburt«, sagte ich.
Er seufzte und steckte sich eine weitere Zigarette an. Ohne etwas zu sagen.
»Fahr rechts ran.«
»Was?«
»Fahr rechts ran, verdammt noch mal!«, wiederholte ich. »Mir wird schlecht.« Kaum waren die Räder zum Stehen gekommen, stürzte ich nach draußen.
Am späten Nachmittag hatten wir jenseits der kahlen, sonnenverbrannten Berghänge eine sehr viel grünere, kultiviertere Landschaft erreicht. Die Passstraße fiel hinter Landi Kotal, das Gebiet der Shinwari kreuzend, in Richtung Landi Khana ab. Bei Torkham waren wir nach Afghanistan eingereist. Kiefern säumten die Straße; es waren weniger als in meiner Erinnerung, und viele schienen verdorrt zu sein. Trotzdem war es gut, nach der anstrengenden Fahrt über den Khyber-Pass endlich wieder Bäume zu sehen. Wir näherten uns Jalalabad, wo ein Bruder Farids wohnte. Bei ihm würden wir die Nacht verbringen können.
Die Sonne war noch nicht untergegangen, als wir Jalalabad erreichten, die Hauptstadt von Nangarhar, berühmt für ihr Obst und das milde Klima. Wir passierten die aus festem Stein gebauten Häuser in der Stadtmitte. Anders als in meiner Erinnerung gab es hier nur noch wenige Palmen zu sehen, und von etlichen Gebäuden waren nur frei stehende Mauern und Berge von Schutt übrig geblieben.
Farid bog in eine enge, ungepflasterte Straße und park te den Landcruiser neben einem trockenen Rinnstein. Ich stieg aus, reckte mich und atmete tief durch. Früher lag hier stets ein süßer Duft in der Luft, den der Wind von den bewässerten Zuckerrohrfeldern im Umkreis der Stadt herbeiwehte. Ich schloss die Augen und suchte nach diesem Duft, fand ihn aber nicht.