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»Gehen wir«, sagte Farid ungeduldig. Wir setzten uns in Bewegung, kamen an entlaubten Pappeln und einer Reihe eingefallener Lehmmauern vorbei. Farid führte mich zu einem flachen baufälligen Haus und klopfte an die Brettertür.

Eine junge Frau machte auf. Sie trug einen weißen Schal um den Kopf gewickelt und hatte Augen so grün wie das Meer. Ihr Blick fiel zuerst auf mich. Sie erschrak. Doch als sie Farid sah, leuchteten ihre Augen auf. »Salaam alaykum, Kaka Farid!«

»Salaam, Maryam jan«, grüßte Farid und schenkte ihr, was er mir den ganzen Tag vorenthalten hatte, ein freundliches Lächeln. Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. Die junge Frau trat zur Seite und beäugte mich argwöhnisch, als ich Farid ins Innere des kleinen Hauses folgte.

Die kahlen Wände ringsum waren, wie auch die tief hängende Decke, mit Lehm verputzt. Für Licht sorgten einzig und allein zwei Laternen, die in einer Ecke hingen. Wir zogen unsere Schuhe aus, um die Strohmatten am Boden zu schonen. Vor einer Wand hockten drei Jungen im Schneidersitz auf einer Matratze, über der eine verschlissene Wolldecke lag. Ein großer bärtiger Mann mit breiten Schultern stand auf, um uns zu begrüßen. Farid umarmte ihn, und die beiden tauschten Küsse auf die Wangen. Er stellte ihn mir als seinen älteren Bruder Wahid vor. »Er ist aus Amerika«, sagte er, an Wahid gewandt, und deutete mit dem Daumen auf mich. Dann begrüßte er die Jungen.

Wahid bat mich, Platz zu nehmen, und wir setzten uns an die Wand gegenüber den Jungen, die über Farid hergefallen waren und ihm auf die Schultern kletterten. Un geachtet meiner Proteste, verlangte Wahid von einem von ihnen, eine Decke für mich zu holen, damit ich es auf dem Boden bequemer hätte. Maryam bekam den Auftrag, Tee zu servieren. Er erkundigte sich nach den Straßenverhältnissen und unserer Fahrt von Peshawar über den Khyber-Pass.

»Ich hoffe, Ihnen sind keine dozds in die Quere gekommen«, sagte er. Der Khyber war bekannt als Rück zugsgebiet für Banditen, die es auf Reisende abgesehen hatten. Ehe ich antworten konnte, zwinkerte er mit dem Auge und sagte laut genug, um im ganzen Raum gehört zu werden: »Aber ein dozd würde natürlich keine Zeit verschwenden auf ein so hässliches Auto wie das meines Bruders.«

Farid hatte den kleinsten der drei Brüder zu Boden gerungen und kitzelte ihn mit der gesunden Hand. Der Junge kicherte und trat mit den Beinen um sich. »Immerhin habe ich ein Auto«, bemerkte Farid. »Und wie geht es deinem Esel dieser Tage?«

»Mit dem fahr ich besser als du mit deiner Klapperkiste.«

»Khar khara mishnassah«, konterte Farid. Um einen Esel zu verstehen, muss man selbst ein Esel sein. Alle lachten, und ich stimmte mit ein. Nebenan waren Frauenstimmen zu hören. Ich konnte von meinem Platz aus den halben Raum jenseits des Durchgangs einsehen. Maryam schüttete Tee in eine Kanne und unterhielt sich mit einer älteren Frau in brauner hijab. Es war wahrscheinlich ihre Mutter.

»Was machen Sie beruflich, Amir Aga?«, fragte Wahid.

»Ich bin Schriftsteller«, antwortete ich und glaubte, ein Kichern von Farid gehört zu haben.

»Schriftsteller?« Wahid zeigte sich beeindruckt. »Schreiben Sie über Afghanistan?«

»Ja, auch. Aber nicht nur.« Mein letzter Roman, A Season for Ashes, handelte von einem Universitätsprofessor, der sich, nachdem er seine Frau mit einem seiner Studenten im Bett erwischt hatte, einer Clique von Bohemiens anschließt. Es war kein schlechtes Buch. Manche Kritiker hatten es für »gut« befunden, einer bezeichnete es sogar als »fesselnd«. Trotzdem geriet ich plötzlich in Verlegenheit und hoffte, dass sich Wahid nicht weiter danach erkundigte.

»Vielleicht sollten Sie wieder mal über Afghanistan schreiben«, sagte Wahid. »Erzählen Sie dem Rest der Welt, wie die Taliban unser Land zugrunde richten.«

»Nun, dafür… dafür bin ich wohl nicht der Richtige.«

»Aha.« Wahid nickte und errötete ein wenig. »Das wissen Sie natürlich selbst am besten. Es ist nicht an mir, Ihnen irgendwelche Vorschläge zu machen…«

In diesem Augenblick kamen Maryam und die andere Frau mit einem Tablett herein, auf dem sie Tassen und eine Teekanne brachten. Ich stand respektvoll auf, legte eine Hand auf die Brust und verbeugte mich. »Salaam alaykum«, grüßte ich.

Die ältere Frau hatte die untere Gesichtshälfte mit ihrer hijab verdeckt. Auch sie verneigte sich und antwortete mit kaum hörbarer Stimme: »Salaam.« Zu einem Blickkontakt zwischen uns kam es nicht.

Ich blieb stehen, während sie Tee einschenkte, und setzte mich erst wieder, als sie auf bloßen Füßen lautlos nach nebenan zurückgegangen war. Der Tee war schwarz und sehr stark. Es blieb lange still. Schließlich brach Wahid das peinliche Schweigen.

»Was also führt Sie zurück nach Afghanistan?«

»Kommen nicht alle, lieber Bruder?«, sagte Farid und bedachte mich mit einem verächtlichen Blick.

»Bas!«, herrschte Wahid den jüngeren Bruder an.

»Es ist doch immer dasselbe«, fuhr Farid fort. »Sie verkaufen Grund und Boden, da ein Haus, hier eine Liegenschaft, kassieren das Geld und verkrümeln sich schnell wieder. Zurück nach Amerika, wo sie mit der Familie Urlaub in Mexiko machen und das Geld verjuxen.«

»Farid!«, blaffte Wahid, und seine Kinder, ja sogar Farid zuckten zusammen. »Hast du deine gute Erziehung vergessen? Du bist in meinem Haus! Amir Aga ist mein Gast, und ich lasse nicht zu, dass du so sprichst.«

Farid öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber eines anderen und schwieg, murmelte nur irgendetwas in seinen Bart und lehnte sich zurück. Sein auf mich gerichteter Blick war voller Vorwurf.

»Verzeihen Sie uns, Amir Aga«, sagte Wahid. »Schon als Kind war mein Bruder mit seinem Mund zwei Schritte weiter als mit dem Kopf.«

»Wenn hier jemand um Verzeihung bitten muss, dann bin ich es wohl«, entgegnete ich und lächelte bemüht. »Ich hatte ihm längst erklären sollen, weshalb ich nach Afghanistan gekommen bin. Verkaufsabsichten habe ich jedenfalls nicht. Ich bin nach Kabul unterwegs, um einen Jungen ausfindig zu machen.«

»Einen Jungen«, wiederholte Wahid.

»Ja.« Ich zog das Polaroidfoto aus meiner Hemdtasche. Hassans Bild vor Augen, kehrte meine Trauer über seinen Tod mit voller Wucht zurück. Ich musste wegsehen. Wahid nahm das Foto entgegen und betrachtete es. »Diesen Jungen?«

Ich nickte.

»Diesen Hazara-Jungen?«

»Ja.«

»Was bedeutet er Ihnen?«

»Sein Vater stand mir sehr nahe. Das ist der Mann auf dem Foto. Er inzwischen gestorben.«

Wahid blinzelte mit den Augen. »Er war ein Freund von Ihnen?«

Spontan wollte ich die Frage bejahen, als ginge es auch mir darum, Babas Geheimnis zu hüten. Doch es war in dieser Hinsicht genug gelogen worden. »Er war mein Halbbruder.« Ich schluckte. Fügte hinzu: »Mein unehelicher Halbbruder.« Ich drehte die Teetasse in den Händen, spielte mit dem Henkel.

»Ich wollte nicht indiskret sein.«

»Das sind Sie auch nicht«, erwiderte ich.

»Was haben Sie mit dem Jungen vor?«

»Ihn mit nach Peshawar nehmen. Da wohnen Leute, die sich um ihn kümmern werden.«

Wahid gab mir das Foto zurück und legte mir seine große Hand auf die Schulter. »Sie sind ein ehrenhafter Mann, Amir Aga. Ein wahrer Afghane.«

Ich wand mich innerlich.

»Ich bin stolz darauf, Sie heute Nacht zu Gast in meinem Haus zu haben«, sagte Wahid. Ich bedankte mich und riskierte einen Blick auf Farid. Er blickte nach unten und zupfte an den losen Enden der Strohmatratze.